Kolumbianische Rückkopplung

■ Nach Márquez: Streifzüge durch die Literatur Kolumbiens

Viele Jahre später sollte der Oberst Aurelinao Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen. Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahineilte durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier.« Mit diesen Worten beginnt Gabriel Garcia Márquez' Erfolgsroman Hundert Jahre Einsamkeit und ebenfalls mit diesen Worten beginnt in Europa die Geschichte der kolumbianischen Literatur.

Generationen von Südamerika- Touristen pilgerten seit diesem großen Epos über Aufstieg und Niedergang der Familie Buendia in das kleine Land zwischen Kaffeebaronen und Drogenmafia. Immer auf der Suche nach dem verwunschenen Ort Macondo, wanderten sie auf den Spuren des Oberst Aurelinao Buendia und sahen mit den Augen des großen Magiers Garcia Márquez.

Wer nach ihm, dem Übervater Wortgewalt, dem Nobelpreisträger und Dichterfürsten, kam und schrieb, tat und tut sich allemal schwer, dem langen Schatten des großen Literaten zu entgehen. Und auch die Literaturreihe, die zur Zeit im Haus der Kulturen der Welt den Versuch unternimmt, uns Europäern ein differenzierteres Bild der lateinamerikanischen Literatur zu vermitteln, kommt an Gabriel Garcia Márquez nicht vorbei. Obwohl sie gerade das zu tun vorgibt.

Die Lesereihe »Mit dem Geruch der Guajave. Kolumbianische Literatur nach Gabriel Garcia Márquez« scheidet — es ist wohl kaum anders möglich — das literarische Schaffen Kolumbiens in ein Prä- und eine Post- Márquez-Zeitalter. Sieben der besten und bekanntesten Literaten des Landes sind eingeladen, noch bis zum Samstag aus ihren ganz unterschiedlichen Lyrik- und Prosawerken zu lesen, und sie bestätigen eindrucksvoll, daß es in Kolumbien natürlich auch ein künstlerisches Leben nach Márquez gibt.

Am vergangenen Mittwoch machten die Dramatikerin und Novellistin Fanny Buitrago und der Lyriker und Essayist Juan Gustavo Cobo Borda den Anfang. Hinter einer Batterie von Kabeln und Mikrophonen, in gleißendes Neonlicht getaucht und von zwei Dolmetschern flankiert, saßen die beiden lateinamerikanischen Dichter auf ihrem hölzernen Podium vor einem interessierten Publikum und gaben sich redlich Mühe, ihre Sprachkunstwerke in dieser ungastlichen Atmosphäre, allen Widrigkeiten zum Trotz, doch noch zum Klingen zu bringen. Ein linnenes Stück kolumbianische Volkskunst schwebte stimmungsheischend über ihren Köpfen, und doch blieb Macondo fern und die Stimmung im Publikum zögerlich.

Dabei hat Fanny Buitragos Erzählung Kostenlose Aufklärung zweifelsohne große erzählerische Qualität. Ihre Kurzgeschichte über »Inspiration, Dichtkunst und die Maßlosigkeit des Genies« ist witzig, hintergründig, von wunderschöner sprachlicher Dichte — und erinnert damit schon fast wieder (sic!) im besten Sinne an Márquez!

Der zweite kolumbianische Literaturvertreter des Abends, Juan Gustavo Cobo Borda, hatte uns — ganz Weltenmann — seinen lyrischen Zyklus Auf dem goldgefaßten Wasser mitgebracht. In zwölf poetischen Gedichten beschreibt er darin seine Eindrücke aus dem — auch uns so fernen Land Japan. Der Dichter als Samurai. Das Land der aufgehenden Sonne, gesehen mit den Augen eines lateinamerikanischen Dichters, aufgenommen von einem deutschen Publikum. Dieser Beitrag war zwar als Auftakt einer Reihe über kolumbianische Literatur etwas unglücklich ausgewählt, legitimierte sich aber schnell angesichts seiner wundersamen Wortlyrik — soweit man sich da auf die Übersetzung ins Deutsche verlassen kann. Sätze wie »Nahe dem Wasserfall/ trinke ich, während der Mond/ durch den Bambus wandert,/ meinen Sake« luden zum wachen Hören und sinnfernen Träumen zugleich ein.

Doch verflucht sei der Herr, ob seiner elenden babylonischen Sprachverwirrung! Wer sich an diesem Abend — wie ich des Spanischen unkundig — auf die Simultanübersetzungen via »Stick in ear« oder die deutschen Rezitationen von Uwe Drewitz verlassen mußte, wurde von der Lesung bald herbe enttäuscht. Denn die offensichtlich überforderte Haustechnik versendete, während Frau Buitrago den Wissenden ihre Erzählung vortrug, nicht nur die leierige Stimme ihrer deutschen Dolmetscherin, sondern — gewissermaßen als Rache an unserer romanistischen Unwissenheit — ein schrilles und dauerhaftes Rückkoppelungstönchen, das jeden Genuß an ausschweifender Fabulierkunst kolumbianischer Prägung zu einem akustischen Martyrium werden ließ. Die Lyrik des Herrn Cobo Borda, voreilig in die Hände eines teutonischen Schauspielers gelegt, ergab sich, zunächst noch kurz mit dem handwerklichen Ehrgeiz des Uwe Drewitz ringend, schlußendlich als rezitatorisch vollends over-done in ihr literarisches Schicksal.

Kein noch so kleiner Faden der Inspiration entspann sich da zwischen Publikum und Podium. Und so verließen viele Zuhörer noch während der Lesung, ein piepsendes Gerät in ihren Händen, frustriert den Saal. Dieser interessante Versuch, die kolumbianische Literatur einem größeren Publikum zugängig zu machen, muß wohl als gescheitert betrachtet werden, bleibt diese Lesereihe doch so wiederum nur die zirkelhafte Angelegenheit einiger weniger. Wohl dem, der sich zuvor den anläßlich der Lesereihe erschienenen Sammelband Die verdammte Inspiration — Kolumbianische Literatur nach Gabriel Garcia Márquez besorgt hatte, und so zumindest in Ruhe nachlesen konnte, was an diesem Abend wohl nur für Native- Speaker ein Vergnügen war. Klaudia Brunst

Heute abend liest der Romancier Alvario Pineda Botero um 19.30 Uhr seine Erzählung Toor! und Eduardo Gmez gibt einen Einblick in sein lyrisches Schaffen. Am morgigen Samstag wird dann, wieder um 19.30 Uhr, Luis Fayad die Lesereihe beschließen und zu einem Podiumsgespräch über die »Krise der engagierten Literaur« überleiten. Der Sammelband Die verdammte Inspiration — Kolumbianische Literatur nach Gabriel Garcia Márquez ist sehr zu empfehlen und über das Haus der Kulturen der Welt noch bis Samstag zum Vorzugspreis von 18 DM zu beziehen.