Dialoge mit dem Sehnsuchtsbild

■ Die Gruppe »Tiefenenttrümmerung« spielt »Im Quadrat der Entfernung« im Tacheles

Im Quadrat der Entfernung« — das klingt nach spröder Gedankendisziplin und mathematischer Vermessungstechnik — als könne die Irrationalität von Gefühl und Bedürfnis in logikversessener Gedankenlosigkeit ausgemerzt werden.

Wo aber wäre die absolute Irrationalität logistischer Konsequenz je deutlicher zutage getreten als in der militärischen, wo radikaler aller Menschenwürde beraubt als in der des Zweiten Weltkrieges. Die Kälte der Zahlen — 6 Millionen Juden — oder die Gefühlsleere eines technokratischen Wortes wie »Kriegsverluste« (16 Millionen) spiegelt bodenlose Fassungslosigkeit.

Sinnlich erfahrbare Eiseskälte herrscht im obersten Stock des bröckeligen Tacheles: durch den »Blauen Salon« pfeift der Wind, und seine Kargheit weckt unheimelige Stimmung.

Kein Ort freiwilligen Verweilens und deswegen ideal für das Projekt der Gruppe Tiefenenttrümmerung, mit einer Sammlung authentischer Briefe und Tagebucheintragungen das abgestürzte Gefühlsbarometer des Kriegsjahres 1942 szenisches Ereignis werden zu lassen. Hier wurden während des Zweiten Weltkriegs französische Kriegsgefangene untergebracht, hierhin lagerten sich ab 1943 NS-Dienststellen vom SS- Zentralbodenamt und der KdF-Organisation (»Kraft durch Freude«) aus. Später wurde in einem schweren Bombardement das Gebäude nachhaltig aufgeschlitzt. Und auch die Teilnutzung und Teilsprengung nach dem Krieg wirkt in ihrer Unentschiedenheit symbolträchtig.

In dieser Mischung aus unbewältigter Vergangenheit und Gefühlsfrost flüchtet das Publikum unter die bereitliegenden grauen Decken und drängt sich Wärme suchend dicht aneinander — eine Solidarität, die nötig ist, um die Illusionen und Ängste, die Klagen und Verwirrungen ertragen zu können, mit denen uns sieben Biographien vorgeführt werden, die in den Kriegsjahren stehengeblieben sind.

Schemenartig stolpern die Gestalten nach und nach aus den weit entfernten Türen, formieren sich zur Gruppe und sehen ungläubig den Gang zu uns herunter, als wäre es unvorstellbar, ihre vom Krieg gezeichnete Präsenz mit unserer Gegenwart zu vereinigen. Dann durchbrechen sie plötzlich doch die imaginäre Zeitenwand und rücken auf uns zu. Keiner weicht dem Blickkontakt mit dem Zuschauer aus. Sieben Monaden, zusammengehalten durch die gleiche Entfernungsquadratur, die alle mit infernalischer Zwangsläufigkeit von dem Liebsten und Nächsten, dem Geliebten und Verwandten trennt.

Zunächst die Daheimgebliebenen, die Frauen. Die alleingelassene Mutter mit riesigem Suppentopf und Putzteufelgebaren, in Schürze und Kopftuch gewickelt, sieht schon jetzt wie die Trümmerfrau aus, die drei Jahre später Backsteine sammeln wird. Kai Helmich scheuert mit unsäglicher Inbrunst den Boden, als könne man sich dort zur Wahrheit vorscheuern. Eine resolute Ruhrpott- Mama herben Typs, deren drahtige Bewegungen und kantenscharfe Töne zwanghaft unterkühltes Pflichtbewußtsein fühlen lassen.

Hilflos und ohne Orientierung: die schwangere Offiziersfrau. Mit hektischem Stöckelschritt hastet sie orientierungslos durch den Flur. Sucht unseren Blick und zeigt stolz das Bild ihres Mannes vor. Eva Medusa Gühne zeigt eine Frau aus besseren Verhältnissen, in deren schrill kieksender Stimme sich ein schizophrenes Maß an Desorientierung artikuliert.

Stolz, aber zuversichtlich: die altgewordene Pastorentochter. An den Rollstuhl gebunden fährt die vielfache Mutter und Großmutter (Karin Plichta-Söding) herrisch durch den Raum und läßt keinen Zweifel an der inneren Gerechtigkeit kriegerischer Eruption.

Auch die kleine 14jährige beschreibt mit schwacher, gleichwohl ernsthafter Stimme ihre Eindrücke und singt die Nationalhymne. Doch in das weiche Schmusegesicht und den zarten Tonfall Kathrin Angerers hat sich ein empfindlicher Seismograph gezeichnet, der naiv nach allen Seiten ausschlägt. In diese Kinderseele ist tief und unheilvoll eingegraben, was die Erwachsenenwelt widersinnig verkündet.

Und dann das eingezogene Kanonenfutter, die Männer. Im Zeitlupentempo schleichen sie als Front heran, von Todesgefahr umgeben, sich beständig nach allen Seiten sichernd. Ein fürchterlicher Spähtrupp, dem die Paradoxie den Körper krümmt.

Die unschuldige Ahnungslosigkeit des 20jährigen (Frank Brückner) läßt übermütige Euphorie überborden und wie ein straffes Spiel den Nahkampf proben. Der mörderische Gang ins Verderben ist jedem Schritt unterlegt, und aus der begeisterten Berichterstattung an die Mutter quillt ständig fehlgeleiteter Idealismus, der trotzig auch nicht schwinden mag, wenn das Bein verloren ist.

Auch der Freiwillige (Sigurd Bemme) mt der Schaufel in der Hand bekämpft trotzig die Enttäuschung. Nicht an die Front durfte er, statt dessen muß er in der zweiten Reihe Juden morden. Grausam und ungefüg und nicht erklärbar lebt in ihm der Widerschein eines, der das Exekutionsgeschäft als technisch saubere Arbeit beschreibt, damit es überhaupt beschreibbar wird: »Nun gut, spiel' ich halt den Henker... Es ist doch eigentümlich, da liebt man den Kampf, und dann muß man wehrlose Menschen über den Haufen schießen...«

Schließlich gibt der Lehrer (Johannes Hupka) an der Ostfront das knappe Bild eines von Zweifel und Qual gemarterten Humanisten, der zwar im letzten Moment einen Haufen Partisanen rettet, aber insgesamt sich fügt und seinem inneren Widerstand Aufschub erteilt: »Weinen ist kein Ausweg, wenn man in den Dingen steht.«

Ingrid Hammer und Peggy Lukac haben aus der Authentizität persönlicher Mitteilungen kein Dokumentartheater gemacht. Sie haben auch nicht moralische Torpedos in Rührstück- Manier abgeschossen. Mit äußerster Vorsicht und behutsamer Symbolik sind die Widersprüche und Verdrängungsprozesse aus den Briefen und Tagebüchern herausdestilliert und als körperlich erfahrbare Zerrissenheit in die Figuren eingesenkt. Keine kalte Analyse, sondern eine distanzierte Darstellung individueller Mitteilungen, in der die psychische Kontur des Schreibers aufscheint, denn »je größer die zeitliche Entfernung des Abschieds, um so mehr werden die Dialoge per Feldpost zu Gesprächen mit dem Sehnsuchtsbild im eigenen Inneren.« Selten waren diese Sehnsuchtsbilder eindringlicher erfahrbar. Selten wurde dabei die lastende Frage, welche Konsequenzen wir heute ziehen, ehrlicher gestellt: durch den sinnlichen Vollzug. baal

Bis 1.12. do.-so., 20.30 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße 53-56