Programmierte Zumutung

■ Wieviel Aufklärung und Erinnerung werden sich die Deutschen erlauben?

Programmierte Zumutung Wieviel Aufklärung und Erinnerung werden sich die Deutschen erlauben?

Deckel drauf“ lautete die Parole, die nach der Enttarnung Lothar de Maizières als Stasi- Zuträger die Runde machte. In der Tat wäre die endgültige Versiegelung des 200 Kilometer hohen Stasi-Akten-Berges nicht nur den Interessen der Täter entgegengekommen, die sich längst auf neuen Karrierewegen umtrieben; auch eine große West-Ost-Koalition wäre der Parole damals gern gefolgt: die Einheitspolitiker jedweder Couleur, weil sie in den Akten zu Recht einen unkalkulierbaren Risikofaktor für die friedliche Konsolidierung der ehemaligen DDR wie für das Zusammenwachsen der beiden Gesellschaften erkannten; die schweigende Mehrheit-Ost, weil der Zugang zu den Akten — die bloße Möglichkeit der Erinnerung — eine ständige Bedrohung der sich prächtig entwickelnden neudeutschen Lebenslüge bedeuten würde. Daß sich diese Koalition der Verdrängung nicht durchsetzen kann und künftig für die Hinterlassenschaft aus vierzig Jahren deutsch-sozialistischer Herrschaftspraxis das Prinzip Öffentlichkeit gilt, ist — nicht nur für Deutschland — ein spektakulärer, historisch beispielloser Vorgang, der selbst durch das skandalöse Zugangsrecht der Geheimdienste nicht in Frage gestellt wird.

Der Streit, der in den letzten Tagen über die Rechte der Medien geführt wurde, hat mit dem jetzt gesetzlich garantierten Anspruch auf Verwendung der Täter-Akten zu einer notwendigen Verbesserung der ursprünglichen Vorlage geführt. Der Zensurvorwurf, der die Verabschiedung überschattet, ist aus dem Gesetzestext selbst jedoch nur schwer zu begründen. Daß der Handel mit frei floatierenden Stasi-Akten unterbunden werden soll, daß Medien ihre auf dem Schwarzmarkt erworbenen Originale herausrücken müssen, ist ebensowenig schon ein Indiz für Zensurambitionen des Gesetzgebers wie Einschränkungen bei der Veröffentlichung personenbezogener Daten. Erst nach Inkrafttreten des Gesetzes wird sich erweisen, ob durch eine restriktive Auslegung das Recht der Öffentlichkeit am Ende doch beschnitten und der Tenor des Gesetzes auf dem Verordnungsweg in sein Gegenteil verkehrt werden soll.

Wie auch immer die Praxis der Gauck-Behörde im einzelnen aussehen wird, eine Flut neuer, konkreter Informationen über das Ausmaß der Kollaboration ist programmiert. Doch die Bereitschaft einer längst vom Stasi-Überdruß heimgesuchten Öffentlichkeit, sich damit ernstlich auseinanderzusetzen, sollte nicht allzu hoch veranschlagt werden. Das Stasi-Akten-Gesetz könnte deshalb schon bald nicht mehr als zu restriktiv, sondern, wegen seiner relativen Liberalität, als einzige Zumutung begriffen werden. Nicht was die Gauck-Behörde unter Verschluß behält, sondern wieviel an Aufklärung und Erinnerung sich die beiden deutschen Gesellschaften zumuten wollen, diese Frage wird dann die öffentliche Debatte bestimmen. Matthias Geis