Der Sachstand und seine Bewertung

■ Experten des Bundesgesundheitsamtes finden Ländereinwände nicht überzeugend

Vor sechs Jahren fahndete die ganze Republik nach 41 Fässern mit Gifterde aus Seveso. Jedes der Fässer enthielt pro Kilo durchschnittlich 100.000 Nanogramm (Milliardstel Gramm) des Ultragiftes Dioxin. Vor sechs Monaten schaute die Republik nach Marsberg im Sauerland. Die Rotasche, die dort von der Kupferproduktion zurückgeblieben war, hatte als Kieselrot den Weg auf die Sportplätze und Friedhöfe der Republik gefunden. Sie war mit bis zu 100.000 Nanogramm Dioxine je Kilo belastet. Die Umweltbehörden waren angesichts des „gigantischen Problems“ (Matthiesen) zunächst sprach- und hilflos. Die Technik zur Beherrschung und Langzeitsicherung der Tausende von Dioxinaltlasten gibt es nicht.

Doch Sprachlosigkeit und Erschrecken dauerten nicht lange. Nach dem bewährten Motto: „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis“, setzten sich Vertreter der Umweltministerien von Bund und Ländern mit den Fachleuten vom Umweltbundesamt (UBA) und vom Bundesgesundheitsamt (BGA) zusammen, um erst einmal zu einer gemeinsamen Bewertung der Giftlage zu kommen.

Eine gesetzliche Grundlage für die Handhabung der Dioxinbelastungen gibt es nicht. Der Schritt hin zu gemeinsamen Richtwerten, sei nötig, um „ein heilloses Durcheinander“ in der Handhabung dieser und anderer Dioxinbelastungen zu vermeiden, sagte Wolfgang Link vom Bundesgesundheitsamt (BGA). Daher muß der Bund mit allen Ländern den Konsens suchen, um die angestrebte einheitliche Bewertung der Risiken sicherzustellen.

Die Fachleute vom UBA und BGA hatten bereits eine Vorgabe gemacht. Nach zähem Ringen hinter den Kulissen hatten sie 1990 im gemeinsamen „Sachstandsbericht“ einen Bewertungs- und Maßnahmenkatalog vorgelegt, der etliche Folterwerkzeuge enthielt. Schon ab fünf Nanogramm Dioxin je Kilo Boden sollte bestimmte landwirtschaftliche Nutzung verboten werden. In Berlin liegt die durchschnittliche Belastung des Bodens nach amtlichen Erkenntnissen heute schon bei neun Nanogramm. Für Kinderspielplätze waren hundert für Wohnsiedlungen tausend Nanogramm als Richtwerte für die Nutzung veröffentlicht. Ziel war, die gegenwärtig viel zu hohe Dioxinbelastung der Bundesbürger auf unter die Hälfte zu reduzieren. Erwachsene sollten künftig täglich nicht mehr als ein Picogramm (Billionstel Gramm) Dioxin pro Kilo Körpergewicht zu sich nehmen. Minister Töpfer steht (trotz der Debatte) hinter diesen Werten, versichert sein zuständiger Fachmann und Leiter der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Armin Basler, auch jetzt wieder.

Genutzt hat die Rückendeckung durch den Minister nur bedingt. Zwar versuchen UBA und BGA es nach Abschluß des Berichts für die Umweltministerkonferenz als Sieg zu verkaufen, daß ihre Bewertungsmaßstäbe weitgehend erhalten blieben, aber gerade in der sensiblen Landwirtschaftsfrage mußten sie nachgeben und eine politische Neubewertung vornehmen. Fachleute sind sich nämlich weitgehend einig, daß über 80 Prozent der jährlichen Dioxinbelastung aus der Nahrung kommt. Die Neubewertung erfolgte, obwohl die von einigen Ländern vorgelegten Ergebnisse „aus unserer Sicht nicht sehr überzeugend“ waren, wie Link klagt.

Von den hundertmal niedrigeren amerikanischen Grenzwerten waren auch die mühsam erkämpften Empfehlungen von UBA und BGA noch weit entfernt. Die US-Grenzwerte sollen sicherstellen, daß Dioxin nicht mehr als einen zusätzlichen Krebstoten pro Million Einwohner verursacht. Hermann-Josef Tenhagen