Erziehung zum gekrümmten Gang

■ Freya Klier las in der Bremer Villa Ichon aus ihrem Buch „Lüg Vaterland“

Zuerst war Schlimmes zu befürchten: Freya Klier begann bei der Oktoberrevolution, bei Lenin, Rosa Luxemburg und Kronstadt. Doch dann verabschiedete sich die 1985 berufsverbotene und 1988 aus der DDR ausgewiesene Schauspielerin sehr schnell von ausgetretenen Argumentationspfaden, als sie am Donnerstag abend in der Bremer Villa Ichon aus ihrem Buch „Lüg Vaterland — Erziehung in der DDR“ las. Und obwohl sich die Lesung ganz auf einen historischen Abriß der Erziehung in der DDR konzentrierte, wurde schnell klar, daß hier ganz aktuell und mit einer faszinierenden Klarsicht einige Gründe für die psychische Krise der meisten Bürger der neuen Bundesländer benannt wurden.

Deren „Wertevakuum“ und „völliger Identitätsverlust“ sei zum großen Teil auf die staatlich verordnete Erziehung zurückzuführen, die auf der „Lüge vom Sozialismus aufbaute“. Freya Klier erklärte den grundlegenden Unterschied zwischen den Mitgliedern ihrer Generation, den um 1950 geborenen ersten „Kindern des Sozialismus“, und den Jugendlichen von heute, die das Schulsystem der DDR in den 70er und 80er Jahren durchlaufen haben und ganz andere Erfahrungen machten.

Sie selber hatte in ihrer Kindheit begeistert an den Aufbau des Sozialismus geglaubt, im Kindergarten bei der Nachricht von Stalins Tod bitterlich geweint („ich war kein Stalinist, sondern ein Stalin-Fan“), aber auch bei vielen Vorträgen von Widerstandskämpfern eine genaue Vorstellung davon erhalten, was Antifaschismus ist.

Ganz anders das Weltbild von Jugendlichen in den 80er Jahren, das Freya Klier durch illegale Befragungen von über 1.100 Schülern untersucht hat: Ganz pragmatisch und illusionslos wurden hier die „Spielregeln beherrscht“ — als Lebensperspektiven wurden meist die „technische Schiene“ mit ihren Vergünstigungen oder der Ausreiseantrag genannt, und Neonazismus war als Affront gegen den Staat hoffähig geworden. Das Erziehungsideal war ein gebrochener, sauberer und fleißiger Untertan — Fremdenhaß und Antisemitismus störten dabei gar nicht, denn Ausländer und Juden hatten in der DDR eh nichts zu suchen.

In der Diskussion nach der Lesung sprach Freya Klier von der Enttäuschung der DDR-Dissidenten über die „Kolaboration“ der meisten SPD-Politiker mit dem SED Staat, („Niemals mit einer Diktatur kungeln“), von den 23 Wanzen in ihrer Wohnung und davon, daß die „Hälfte von meinem Freundeskreis“ inzwischen enttarnt wurde. Wilfried Hippen