Das geplatzte Essen

■ Von Barbara Bollwahn

Der gekräuselte Rand der Tischdecke bedeckte ihre Knie. Die Länge der Tischdecke schien ausreichend zu sein für ihr »Spielchen«. Nachdem der Kellner Wodka für ihn und Cognac für sie gebracht hatte, schauten sie kurz zu den benachbarten Tischen, um sich zu vergewissern, daß sie auch nicht allein waren, denn sie brauchten die Öffentlichkeit für das Übertreten des Verbots, das Licht, die Tischdecke als Vorhang für ihre intime Vorstellung. Sie faßte unter ihren Rock und zog den Slip vorsichtig entlang der Oberschenkel bis zu den Knöcheln hinunter, um ihn dann mit den Schuhabsätzen völlig abzustreifen. Die Stuhlfläche war kühl und bald darauf feucht. Gott! Ohne Slip und nur in einem kurzen Rock! Vereinzelt schauten Schamhaare hervor. Mitten in einem Restaurant, unter Menschen, die essen. Was für eine Erregung, hier zu sitzen und so zu tun, als ob nichts wäre.

Sie schauten sich unentwegt an, bis sie meinten, ihre Augen wären zu Geschlechtsorganen geworden. Ihre Augen weiteten und verengten sich im Rhythmus zum Beben seiner Nasenflügel. Sein Fuß näherte sich ihrem, liebkoste ihre Wade und fuhr dann hoch bis zu den Oberschenkeln, wo seine Zehen in der feuchten Wärme ihres Schoßes verweilten, um schließlich mit dem großen Zeh vorzustoßen. Ihre Wangen erröteten mit der wachsenden Erregung, die Brustwarzen waren steil nach oben gerichtet.

Sie zündete sich eine Zigarette an, um nach außen hin so unbeteilgt wie möglich zu wirken. Dann ein vergewissernder Blick durch den Raum. Die große Zehe seines Fußes war jetzt — wie ein kleiner Penis — völlig in sie eingedrungen und sie schloß, die Penetration genießend, die Augen. Der Kellner brachte die Austern.

Verstört, doch mit glühenden Wangen, blickte sie zum Ober hinauf, der statt der sonst üblichen weißen Serviette einen Büstenhalter, der eine beeindruckende Oberweite erahnen ließ, über seinem Unterarm trug und nach weiteren Wünschen fragte. Ehe sie sich von ihrem Staunen erholen konnten, kam er ihnen hilfreich entgegen, indem er ihren Slip mit derselben Gleichmut unter dem Tisch hervorholte, mit der er sonst Krümel von einer Tischdecke bürstete. »Damit det nich wie det letzte Mal zu unanjenehmen Verwechselungen der Unterwäsche kommt«, fügte er kaltschnäuzig im Berliner Dialekt hinzu.

Noch nichtsahnend, blicken sie sich im Restaurant um. Auf den ersten Blick schien alles völlig normal. Ein Restaurant, wo der Pianist zwei Stunden vor Schluß zum sanften Jazz überwechselt und die Gäste längst das Dessert hinter sich gelassen haben. Plötzlich bot sich ihnen unter dem Tisch das gleiche Bild — ein Slip, hin und wieder ein Büstenhalter. Der Kellner war wohl noch nicht dazu gekommen, alles wegzuräumen. Sie riß dem Ober ihren Slip aus der Hand, sprang auf und rannte beschämt und wütend hinaus in den nachmitternächtlichen Herbst. Wer konnte denn ahnen, daß es sich um mehr als ein gewöhnliches Restaurant handelt, wo man einfach nur essen geht?!