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Ein Häppchen vom Jenseits

■ Kein Absturz, kein Höhenflug: „Schwerelos“ in Berlin

Es wirft drei Ringe in der einen Richtung, schrumpft zur Taille hin und bildet am anderen Ende eine Muschel. Es ist nicht ganz glatt, ziemlich hell, autark und elegant, zwischen Chillida und Arp. Fast elegant. Ja, es gibt da eine Spur von Ungeschick.

Jetzt wird der Kopf gebraucht, um das Ding zu orten, oder der Katalog: Das Cochlea-Labyrinth ist das Gleichgewichtsorgan, millimetergroß, es registriert Sturz und Aufstieg. Und es kommt schon ein Schwindel auf, wenn man das Gigantending von Fischli/Weiss mit diesem Wissen anschaut, ein Cochlea- Labyrinth von der Größe und Gegenwart eines Babies.

Gäbe es fünfzig, sechzig Objekte oder Bilder von dieser metaphorischen Dichte und hinterlistigen Gewalt, die Ausstellung Schwerelos wäre eine Rollbahn für die irrwitzigsten Thesen und Exkurse. Aber die Künstler haben sich nicht ganz leicht getan mit dem Abheben, der Aufhebung der Schwerkraft. So machen sich Merkur allein, beziehungsweise Merkur und Psyche gemeinsam, auf, mit Leichtsinn die Götter zu vergrämen; die Zehen der männlichen Figur allerdings bleiben am Boden, so will es die Skulptur um 1600 (Giovanni Bologna, Jan Muller). Zweifellos schweben die Stäbe und Quadrate der russischen Konstruktivisten in ihren neutralen Hintergründen, so wollte es die Metaphysik der Revolution. Beckmanns Stürzender ist dann schon wieder mit den Füßen am Bildrand aufgehängt, und in Sandro Chias Blauer Grotte verharrt ein Brennender in dezentem hysterischem Bogen über dem tiefblauen See, der ihn im Falle seines Sturzes definitiv retten würde, für's erste.

Die Sehnsucht, sich vom Erdboden zu erheben und in unentdeckte Dimensionen vorzustoßen, das ist der uralte und moderne Traum vom Fliegen — sagt Jürgen Weber, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Lufthansa in seinem Grußwort zu Schwerelos, als Sponsor (gemeinsam mit der Klassenlotterie). Anlaß, weniger der Ausstellung, aber der Bereitstellung der Mittel, ist der Flug von Otto Lilienthal vor hundert Jahren. Tatsächlich ist die Querverbindung von der Kunst zum Massentransport per Jet ernstzunehmen. Man kann fliegen; aber sich in brennbare Container zu setzen, die vom Hauptgericht bis zur Nachspeise den Tod bringen können, ist ja nur für die ein Traum, die noch Angst haben. Die anderen wissen schon nicht mehr, was ihnen geschieht. Ikarus ist ein Handelsreisender geworden, und gefährlicher als der fliegende Omnibus ist ihm sein eigenes Herz.

Zwei Flügel hat die Große Orangerie des Schlosses von Berlin-Charlottenburg. Der linke führt über Merkur und Psyche und die Konstruktivisten zu den schwärzesten aller Bilder, denen von Günter Umberg; womit die dünne Luft der Immaterialität zumindest metaphorisch erreicht wäre (statt dessen gibt es Unterstützung durch große Namen, deren Gegenwart in diesem Zusammenhang vielleicht eher Schwindel ist, als daß er ihn auslöst: Bruce Nauman, Imi Knoebel, Ellsworth Kelly). Der andere Flügel beginnt mit den Nachtflügen der Menscheneulen Goyas (einige Caprichos), beweist die Abwesenheit von Zugluft bei den Mobiles Alexander Calders und endet mit einem Raum von James Turrell, der in einem Rechteck von etwa zwei Meter Breite und unmöglich zu ahnender Tiefe ein sanftes rotes Licht zum Leuchten bringt, offensichtlich ein Häppchen vom Jenseits.

Folgt man den Chronologien der Flügel, scheint das Fliegen die Künstler nach Lilienthal so sehr zu interessieren wie die Vollendung des Sozialstaats. Nur René Magritte, die große Pfeife der vierten Dimension, sieht im Abendlicht über einer weiten Ebene einen gigantischen Meteoriten neben einer Wolke schweben (darüber, im schon nachtblauen Himmel, der unschuldigste Sichelmond: La bataille de l' Argonne; 1958). Die Wolke, eine Spur zu massiv gepinselt, sieht dabei wirklich exterritorial aus, während am Recht des Gesteins, im Abendhimmel zu parken, nicht eine Spur von Zweifel aufkommt.

Die fast vollständige Abwesenheit von Frauen im Geschäft des Stürzens, Fallens und Schwebens begründen Anna und Bernhard Blume in einer grandiosen siebenteiligen Fotoserie. Wie immer als grotesk zugeknöpfte Kleinbürger unterwegs zwischen Deckenhaftung und Bodenschluß, erkunden sie diesmal das Terrain des deutschen Waldes, so zwischen zwei und sechs Metern Höhe. Sie sind in den freien Fall nicht — wenn man so sagen darf — gefallen; er ist (wie man dann auch sagen darf) über sie gekommen. Bedrohlich leuchten astlose Stämme. Quintessenz: Metaphysik ist Männersache.

Der Metaphysiker dieser Ausstellung ist Jeannot Simmen, der sich über den schwerelosen Schwindel in der Kunst habilitiert hat; nun, mit Pauken und Trompeten, der Ausflug in die Praxis. „Der irritierte Gleichgewichtssinn ist Ursache für das, was schlagwortartig als Abstraktwerden bislang gedeutet wurde“, schreibt Simmen. Das heißt, die Ikonographie des Fliegens münde im unbestimmbaren Raum. Der These ist zu folgen, solange man im Traum des Fliegens zugleich den Wunsch sieht, die Existenz des Körpers ohne Verlust mit der Existenz der Seele zu tauschen. Die Abwesenheit der Erdenhaftung wäre dann identisch mit Unsterblichkeit. Dennoch, es ist nicht derselbe Betrachter, der den Künstlern um 1600 neidlos beim Träumen zusieht und fünfzig Schritte weiter vor einem rätselhaften roten spiegelnden Bild von Gerhard Richter steht. Simmen fordert hier eine fast religiöse Hingabe an den Gegenstand, die ohne den Kontext des „Fliegens“ möglicherweise eher herzustellen wäre. Die Suggestion ist allzu deutlich und drängt deshalb zum Rückzug. Wo man andere schwärmen sieht, möchte man umso bestimmter auf dem Boden bleiben. Jedenfalls, wenn er aus Stein ist und quadratische Muster aufweist, die zur Architektur diagonal laufen, wie in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg.Ulf Erdmann Ziegler

Schwerelos — Der Traum vom Fliegen in der Kunst der Moderne. Große Orangerie, Schloß Charlottenburg, Berlin. Bis zum 22. Januar 1992, Di.-So., 11-19 Uhr. Katalog 42 Mark.

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