Ein Männlein steht im Walde

Hagen (taz) — Nur wenige kennen sich mit Pilzen aus, einen jedoch kennen alle: den Fliegenpilz, rotköpfig mit weißen Punkten. Schön und giftig, so heißt es. Genaueres zeigt eine Ausstellung in Hagen.

Als Giftpilz ist der Fliegenpilz, zumindest in unserer Kultur, Symbol für die Gefährlichkeit der Natur, Sinnbild für ihre unheimlichen Abgründe und unsere Unfähigkeit, sie angemessen wahrnehmen zu können. Eigentümlicherweise finden sich trotz seiner so sicher vermuteten Giftigkeit in unserer industrialisierten Welt Fliegenpilze und Darstellungen derselben zuhauf: in Kinderbüchern, als Talisman, am Weihnachtsbaum, als Spardose, als Glücksbringer, in Werbung wie Literatur — überall trifft man auf ihn. Dieser merkwürdige Widerspruch zwischen dem hohen Bekanntheitsgrad und den angeblichen Eigenschaften hat das Osthaus-Museum in Hagen zu der Ausstellung Der Fliegenpilz — ein kulturgeschichtliches Museum bewogen. Was hat es dem amanita muscaria auf sich? Die Beschäftigung mit dem Fliegenpilz gerät unversehens zu einer Reise durch die ganze Welt: in unsere wie auch die Kulturgeschichte anderer Völker, quer durch verschiedenste Wissensgebiete, von der Toxikologie bis zur Heilkunde, von ritueller Magie über Hexenwissen und Alchimie bis zur Religion, von der Ethnobotanik bis zur Gartenzwergkultur.

In vorindustriellen Gesellschaften (und vor der Erfindung von LSD und anderen zeitgenössischen Halluzinogenen) waren Plfanzen wie der Fliegenpilz ein Sakrament. Die durch ihn induzierte Trance diente der Kommunikation mit der spirituellen Welt. Gleichzeitig waren sie unmittelbare Lehrmeister der Natur für die Menschen. Die Spuren und Relikte, welche sich auf den Gebrauch des Fliegenpilzes beziehen, scheinen nicht nur Zeugen eines vergangenen Kultes, sondern auch einer verlorengegangenen Beziehung des Menschen zur Natur — in seiner unmittelbarsten Ausprägung — der religiösen Erfahrung zu sein. Uns fehlten vor Jahren sicherlich die entsprechenden Rituale, als wir in der Kommune Fliegenpilzsuppe kochten: In meinem Blickfeld erschienen unerklärliche Löcher, das Ganze war sehr dumpf bis hin zu paranoiden Anfällen.

Ein zur Ausstellung erschienenes Buch klärt über den Fliegenpilz und seine Spielregeln auf. Man sollte wissen, daß der getrocknete Pilz eine ungleich stärkere Wirkung hervorruft als der frische. Um in die ewigen Jagdgründe überzutreten, müßte man 1.250 Kilogramm Frischpilz zu sich nehmen. Oft wird einem kotzübel beim Genuß einiger Pilze, aber dies läßt sich vermeiden. Wie schon früher in Sibirien bietet es sich als ökonomisch an, den Urin eines Fliegenpilz-Konsumenten zu trinken — dann bekommt man die volle Wirkung des Pilzes ab, ohne die übliche Einstiegsübelkeit.

Die Ausstellung im Karl-Ernst- Osthaus-Museum in Hagen/Westfalen ist bis zum 19.Januar 1992 geöffnet. Das die Ausstellung begleitende Buch (mit zahlreichen Abbildungen) ist im Wienand Verlag erschienen (ISBN 3-87909-224-9). Ronald Rippchen