Jenseits aller Deutschtümelei

„Heimatlos“, ambitionierter Spielfilm über die Wolgadeutschen, So., 21.50 Uhr, ARD  ■ Von Reinhard Lüke

Es geschieht nicht eben häufig, daß ein Sender weder Kosten noch Mühen scheut und zur Pressevorführung eines Films beteiligte Laien-Darsteller aus entlegenen Gegenden einfliegt. Doch wie die Geschwister Lidia und Maria Reiss-Bock, deutschstämmige Bäuerinnen aus Saratow an der Wolga, da im kargen Vorführraum des WDR saßen, konnten sie es noch immer nicht so recht fassen. Weniger, daß sie unvermittelt zu Schauspielerehren gekommen waren, als vielmehr der Umstand, daß sich überhaupt irgendjemand für sie interessierte. „Irgendjemand“, das waren in diesem Fall vor allem Imre Gyöngyössy, Barna Kabay und Katalin Petenyi. Mehr als zwei Jahre recherchierten die ungarischen Filmemacher in Kasachstan, Sibirien und an der Wolga und stießen dabei auf jene beiden Schwestern.

Heimatlos erzählt die Geschichte von Mathilde, einer alten Bäuerin, die 1941 als junge Frau mit Millionen anderer Deutschstämmiger von Stalin aus Rache für den Überfall der deutschen Wehrmacht, aus dem Wolga-Gebiet nach Kasachstan verbannt wurde. Eine Gegend, in der sie zwar unter widrigsten Umständen zu überleben lernte, jedoch nie heimisch wurde. Erst im Zeichen von Perestroijka und Glasnost erfüllt sich für sie und ihre Schwester ein Traum, an dessen Realisierung die beiden schon nicht mehr geglaubt hatten: Sie erhalten die Erlaubnis, an die Wolga zurückzukehren.

Mit Heimatlos ist den Filmemachern zweifellos das Kunststück gelungen, einen sensiblen und gleichzeitig unvoreingenommenen Blick auf ein dunkes Kapitel sojwetischer Geschichte zu werfen, für den es hierzulande zwischen deutschnationalen Parolen und linken Tabus sonst keinen Raum zu geben scheint. Indem der Film die Frage der Nationalität außenvor läßt und die Wolgadeutschen in eine Reihe mit anderen völkischen Minderheiten im Kampf um ihre Indentität stellt, gewinnen selbst Szenen unverhohlener Rührung eine Überzeugungskraft, die man andernfalls nur als ideologisch verbrämten Schwulst abgetan hätte. Entscheidenden Anteil an dieser Authentizität haben jene beiden Hauptdarstellerinnen, betagte Frauen von ungebrochener Vitalität mit ausdrucksvollen Gesichtern, wie sie sich jeder Filmemacher nur erträumen kann. Und doch liegt in ihrer Mitwirkung nicht nur die Stärke, sondern auch eine Schwachstelle. Denn wo sie bei ihren kleinen Streitereien um Banalitäten des Alltags überzeugend agieren, erstirbt ihre Lebendigkeit zusehens, wenn sie sich nach Drehbuch von A nach B bewegen oder Dialoge sprechen müssen, die sie nicht geschrieben haben. Da wirkt ihr Laienspiel gegen das der Profis unversehens hölzern und steif. Aber ein sehenswertes Stück Fernsehen ist es allemal.