Geburtswehen der „Union souveräner Staaten“

■ An Stelle der Sowjetunion tritt ein lockerer, konföderativer Verband/ Eine Verfassung ist nicht vorgesehen

Moskau (taz/wps) — „Union“ soll das Gebilde weiterhin heißen, auf das sich sieben Republikpräsidenten und Gorbatschow bei der Tagung des Staatsrats in Nowa Ogarjewa geeinigt haben. Das ist jedoch der einzige sprachliche Anklang an die einst stolze UdSSR. Ein „konföderativer Staat“ soll die Union werden, mit Koordinierungsfunktionen in der Wirtschafts-, Verteidigungs- und Außenpolitik und der Befugnis, internationale Verträge abschließen zu können; mithin wird sie Subjekt im Sinne des Völkerrechts sein. Der Staatsrat, höchstes Interimsorgan der Republiken, die dem Wirtschaftsvertrag beigetreten sind, setzte nun auch formell die sowjetische Verfassung außer Kraft. Eine neue wird es nach dem Willen der Republiken nicht geben, der Vertrag und eine Erklärung über die Menschenrechte werden die einzigen Dokumente der neuen Union sein.

Iwan Silajew, ehemaliger Premier Rußlands, Wirtschaftsliberaler und bisher schon Chef der Wirtschaftsunion, wurde vom Staatsrat zum Ministerpräsidenten bestellt. Er wird an die Spitze eines zum Skelett abgemagerten zentralen Apparats treten, sind doch die meisten Unionsministerien samt ihrer wasserköpfigen nachgeordneten Behörden verschwunden oder in Auflösung begriffen. Was Silajew koordinieren soll, ist gänzlich ungewiß. Die Ukraine, deren Parlamentspräsident, der Wendesozialist Krawtschuk, bis zur Präsidentenwahl am 1.Dezember dem Staatsrat fernbleibt, ist entschlossen, eine eigene Währung und eigene Streitkräfte einzuführen. Ein Großteil des ukrainisch- stämmigen Offizierskorps hat die Sowjetarmee verlassen und sich dem „Vaterland“ zur Verfügung gestellt. Die anderen Republiken wollen diesem Vorbild nacheifern und sollen nach dem Vertrag auch das Recht dazu haben. Zwar bleibt der Zentrale die Verfügungsgewalt über die „strategischen“ Waffen, aber viele Beobachter, darunter gestern auch eine Delegation der „Ärzte in sozialer Verantwortung“, bezweifeln, daß es dabei bleiben wird. In den Bereichen Ökonomie, Wissenschaft, Umwelt, infrastrukturelle Vorhaben oder Energieversorgung ist geplant, multilaterale Abkommen abzuschließen, die die Projekte einzeln aufführen und ihre Finanzierung in Teilabschnitten sichern. Ein Verbündeter bleibt der Zentrale allerdings bei dem Versuch, Kompetenzen zu retten: George Bush. Dem in den USA weilenden Präsidenten Armeniens, Lewon Ter-Petrossian, bedeutete der amerikanische Präsident gestern, internationale Hilfe setze eine funktionierende zentrale Körperschaft voraus, die sowohl koordiniere als auch die wachsende Unabhängigkeit der zwölf Republiken respektiere. Bush: „Aber fragen Sie mich bitte nicht, wie das funktionieren soll.“ Christian Semler