Transformer für Theben

■ »Antigone oder Die Stadt« von Katzer&Müller an der Komischen Oper

Die wichtigste Meldung vorab: Jawohl, sie hat diesmal wirklich stattgefunden, die so lange schmerzlich verschobene Uraufführung an der Komischen Oper. Und das ist ja allerhand angesichts der anderswo noch andauernden Lähmungserscheinungen in den Berliner Opernbetrieben.

Folgen zweitens die fälligen Grußadressen: Unser tief empfundener Dank geht zunächst an Jochen Kowalski, der sich nicht nur putzmunter gesund in bester Laune zeigte, sondern auch locker in der Lage, die ganze Palette lyrisch geschmolzener, hoch- und langgezogener Tonfäden abzusondern, die bei den Countertenören immer so außerordentlich unwiderstehlich wirken. Besonderer Dank gilt weiters namentlich: den Herren Willibald Kämmer und Uwe Niesig für technische Leitung und Licht-Design sowie Klaus Müller, Gerhard Benke, Willi Ennigkeit und Klaus Freihöfer für die Anfertigung und technische Umsetzung des Bühnenbildes. Selten oder gar nie ist sonst gelungen, was sie an diesem Abend vorführten: die gewaltigsten multifunktionalen Maschinen (bei Uraufführungen neuer Opern unerläßlich) bewegten sich vollkommen reibungs- und geräuschlos — und zwar sowohl aufwärts wie seitwärts, abwärts und vorwärts. Kein Quietschen und Knirschen, nichts blieb stecken oder hängen, alles perfekt geölt. Insbesondere imponierten zwei riesige im Bühnenhimmel rotierende Radarschirme mit ständig wechselnder Diaprojektion; eine quer- und windschnittige, schwenk- und gleitfähige Raumkapsel mit sage und schreibe acht Monitoren, zwei Terminals und diversen Blinkanlagen; eine weißleuchtende Blackbox mit Zusatz-TV, seitlich verkabelt und mehrfach elegant in die Mitte der Rampe rutschend — sowie schließlich eine Art überdimensionales Rhönrad.

Auch das ist ja allerhand. Aber es ist noch gar nichts gegen den kompositionstechnischen Overkill, den der Tonsetzer Georg Katzer in dieser seiner neuesten Oper zu entfesseln wußte: Lärmgewitter vom Band und aus Blech in schönem Wechsel mit eleganten Glissandi, vielfach vernetzten Flächenklängen und feinfühlig dosierten Melodiefetzen unten im Graben — dazu oben auf der Bühne bravourös absolviert vom Sängerteam: das bewährte hochexpressive Nonen-Spagat ebenso wie die zu Herzen gehenden Sekundschrittqualen. Es gab, mag sein, um auch die Ressentimenthörer einzubinden, gar formal tonale und historisierend frei atonale Passagen. Es soll, so weisen die Noten und so steht es auch im Programmheft zu lesen, noch allerhand anderes mehr gesungen und gespielt worden sein. Kurz: Es war, mit Verlaub, viel zuviel des Guten — zu gut gemeint für das gemeine Menschenohr.

Das nämlich konnte wegen der so überaus selbständig geführten Musiksprache die Worte der Handlung nur schlecht verstehen. Oder war das womöglich gar Absicht? Daß den Leuten erst nachträglich, wenn sie daheim das bedeutende Libretto von Gerhard Müller noch einmal nachlesen, so recht ein Licht aufgeht, welchem existentiellen Menschheitsdrama sie da haben beiwohnen dürfen? Man sollte wenigstens einige Grundlinien und Schlüsselzitate in Kürze vorab mitteilen, etwa so: »Etwas geht vor... Wer bin ich?... Mir ist ganz kalt... Das ist ja ungeheuerlich... Was heißt hier Wahrheit?... Die Welt ist wahnsinnig geworden... Ich bin ein Mensch... Kann jedem passieren.« Und vielleicht müßte, um Mißverständnisse zu vermeiden, auch noch zugefügt werden: »Hier wird nicht gelacht.«

Es gibt nichts zu lachen, die Lage ist ernst. Das Stück handelt nämlich, verkleidet in den allbekannt antiken Stoff, von uns Wossis hier und heute. Antigone ist »das Volk« und Theben ist Leipzig oder die Hauptstadt der DDR oder vielmehr die ganze DDR bis rauf nach Hoyerswerda: wo eine neue Ordnung die alte ablöst, aber so unordentlich dabei verfährt, daß sich kein Mensch mehr zurechtfindet zwischen Wahrheit und Lüge, Oben und Unten, Gut und Böse, Feind und Freund, Steuererklärung und Ratenzahlung etc. pp. Katzers Oper spiegelt diese Konfusion ganz realistisch wider: Sie möchte so gerne für etwas sein und kann sich nicht entscheiden, wogegen. Mal wird der östliche Überwachungsstaat angeprangert und mal die drohende Computerisierung westlicher Lebensart. Mal geht es gegen den Personenkult und mal gegen die schöne neue Warenwelt. Mal läuft das Chorvolk fähnchenschwingend mit, murrt, spitzelt und denunziert, daß es nur so eine Art ist — dann wieder ist es das Volk, das sich stellvertretend für Antigone den Geboten des Tyrannen widersetzt. Und dessen auf Fähnchen und Armbinden allgegenwärtiges Herrschaftszeichen ist, nur sparsam verfremdet, eben das Firmenzeichen jenes Automobilkonzerns, der (wie einer kleinen Notiz auf dem Besetzungszettel zu entnehmen ist) »die Komische Oper bei ihrer Werbung unterstützt«.

Da kenne sich einer noch aus. Natürlich steht völlig außer Zweifel: Katzer und Müller treten auch mit dieser Oper wieder entschieden ein für eine humanistische Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung und Unterdrückung — natürlich auch ohne Rowdytum, Medienmanipulation und was dergleichen Dekadenzerscheinungen mehr sind. Bloß wie das zu machen ist, wissen sie nicht, und darum endet das Stück auch tief in Resignation. Dabei liegt ihnen doch die Lösung des Problems quasi ständig auf der Zunge — und sie wird von der Bühnentechnik auch überzeugend ins Bild gesetzt: alles läßt sich leicht regeln mit Hilfe der Transformer.

Die neue Ordnung ist überall bei Kaufhof und Karstadt zu kriegen, und zwar in der Spielzeugabteilung, bei den Fiction-Figuren für Knaben und für Männer, die das noch werden wollen: wegschieben, zurückgleiten, umklappen, Nippel rein und fertig. Transformation ist Perfektion, das ist die Welt der Transformer Micromaster. Die fahrbare Raumstation verwandelt sich mit wenigen Griffen in einen Dinosaurier, der Super-Robot wird zum Krankenwagen, die Wahrheit zur Lüge und umgekehrt, neunundneunzigprozentiges Volk wird zu neunundneunzigprozentigen Stasi-Spitzeln, und natürlich, bei Bedarf, verwandelt es sich wiederum mit wie gesagt wenigen Griffen in: das Volk. Katzer und Müller haben ja am eigenen Leibe diese wunderbare Transformerkraft erfahren dürfen. Katzer, einer der angesehensten und erfolgreichsten Komponisten der alten DDR, ist heute in Wossiland Mitglied des Präsidiums des deutschen Musikrates und war sowieso schon immer einer der ganz wenigen Aufrechten gewesen. Der Journalist Müller hat siebzehn Jahre für 'adn‘ geschrubbt und sich dann mühelos in einen tief empfindenden Künstler verwandelt.

Es kommt am Ende nur an auf die perfekte Technik, dann gibt es Wunder dieser Art immer wieder. Die Solisten und vor allem der Chor der Komischen Oper zeigten sich von ihrer besten Seite. Die Regie hatte Harry Kupfer. Er ließ sich am Premierenabend nicht blicken. Elisabeth Eleonore Bauer