Kirgisien: Die Gelehrtenrepublik am Fuße des Tien-Schan

■ In der mittelasiatischen Republik bestimmen Pragmatismus und Bescheidenheit den politischen Kurs/ Der Präsident Askar Akajew erreichte die Beilegung nationaler Zwistigkeiten/ Das gesellschaftliche Klima bestimmt sich aus westlichem Liberalismus und verweltlichtem Spiritualismus/ Islam und Fundamentalismus spielen nur eine untergeordnete Rolle/ Die Republik will gemeinsam mit Moskau auf den Weg aus der Vergangenheit Von Klaus Helge Donath

„Gibt es nun Fleisch oder nicht?“ Unaufhörlich schlägt der rote Bleistift einen Halbkreis. Nasardim Isanow versucht so die Ruhe zu bewahren. Die Schläge gelten eigentlich dem Landwirtschaftsminister. Der hatte soeben einen Lagebericht gegeben. Vorgetragen im Tonfall des Erfolges, jenem Rezitativ sozialistischer Niederlagen. „Weichen Sie der Frage nicht aus! Wer ist Schuld? Fragen Sie Ihre Mitarbeiter, die sitzen hier doch alle!“ Isanow, braungebrannt, ein schöner Mann, neigt sich vor und schwingt den Oberkörper von rechts nach links. Sein Unbehagen ist physisch, sein Blick haftet im Saal. Dort sitzen die Mitglieder des Ministerrates und die Vorsitzenden der Verwaltungsgebiete der Republik Kirgisistan. Isanow, Premierminister der mittelasiatischen Republik, führt seine Minister vor. Allesamt stammen sie aus der alten Zeit, als Kirgisien noch unter dem Ruf litt, uneinnehmbare Feste der ewigen Werte zu sein. Die vergangenen anderthalb Jahre haben das politische Erscheinungsbild der Republik aber gehörig verändert. Mit dem Versuch, über die Einführung eines Präsidentenamtes durch den Obersten Sowjet seine Macht zu sichern, hatte sich der ehemalige KP-Fürst Absamat Masaliejew ins politische Abseits bugsiert. Wie vielen alternden Parteipotentaten war ihm der Wandel in seinem Reich verborgen geblieben. Als Königsmörder hatte sich der 46jährige Askar Akajew hervorgetan, selbst Parteimitglied und bis dato Vorsitzender der kirgisischen Akademie der Wissenschaften. Doch „Königsmörder“, das würde der Physiker nicht durchgehen lassen. Für ihn war es eine „Seidenrevolution“. Raupenzucht ist eine wichtige Einnahmequelle des Bergstaates an der Grenze zu China. Der Systemwechsel trägt in der Tat sanfte Züge, nur fehlt ihm noch der Glanz.

Isanow ist völlig erstaunt. „Wie Pennäler soll ich meine Minister behandelt haben?“ Dem will er nicht zustimmen: „Ich bin ein weicher Mann.“ Aber so weich eben doch nicht: „Die Leute müssen ihre Verantwortlichkeit fühlen und ihre Fehler spüren. Wir stecken in der Übergangsperiode“, erklärt der Premier, kein Mann der großen Worte, eher ein Technokrat. Die Konzepte entwickelt der Präsident selbst. Im Oktober hatten ihm 95 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme gegeben. Als einziger Kandidat stand er zur Wahl, das mindert das Ergebnis aber keineswegs.

Neben 52 Prozent Kirgisen leben noch 12 Prozent Usbeken, 22 Prozent Russen, Ukrainer, Deutsche und Tartaren unter den Massiven des Tien-Schan. Im Sommer 1990 — noch unter der Ägide der Partei — war es in der Südregion Osch, im Ferganatal an der usbekischen Grenze, zu blutigen Auseinandersetzungen mit dem ebenfalls turksprachigen Nachbarvolk gekommen. Der Streit hatte sich an der Verteilung von Bauland entzündet. Schon lange fühlten sich die Kirgisen benachteiligt — im eigenen Land von der eigenen Parteiführung. Nach den Aufständen in Andidschan 1916 gegen den fortwährenden Kolonisationsdruck der Russen flohen hunderttausende Kirgisen vor den russischen Pogromen in die schwer zugänglichen Bergregionen des Landes und über die Grenze nach China. Dreiviertel der Kirgisen leben noch heute auf dem Lande, viele davon im unwirtlichen Gebirge als Bauern, Hirten und Viehzüchter. Den ertragreichen Boden teilten die Invasoren unter sich auf. Das hat sich bis in allerjüngste Zeit fortgesetzt.

„Dort, wo Russen wohnen, stimmt alles vom Strom bis zu den sozialen Einrichtungen. Bei den Kirgisen fehlt manchmal sogar noch die Wasserleitung“, meint Dschipar Dschekschejewitsch. Heute ist er einer der drei Vorsitzenden der Demokratischen Bewegung Kirgisistan (DBK), in der sich 30 informelle Organisationen zusammengeschlossen haben. 1988 gehörte er zu den Mitbegründern der „Aschar“. Dahinter verbarg sich ein Zusammenschluß junger Kirgisen ohne Bleibe, die illegal vor den Toren der Hauptstadt Bischkek, damals Frunse, Land besetzten, um Häuser zu bauen. Aschar war die Keimzelle der Opposition und entwickelte sich zu einer Art kirgisischer Volksfront.

„Akajew“, sagt Djipar leise, „hat gleich den Dialog mit den nationalen Minderheiten gesucht und Vertrauen geschaffen.“ Damit erklärt er den Wahlerfolg. Und er übertreibt nicht. Die einfachen Leute auf der Straße, der Chefredakteur der russischen Zeitung, 'Das Wort Kirgisistans‘, vor kurzem noch „Sowjetkirgisien“, ein gemütlicher Russe, der Chef des kirgisischsprachigen Organs des Obersten Sowjets, das Zimmermädchen im Hotel Alatau und der aufstrebende Jungunternehmer Kalbeg, sie alle begründen es ähnlich, auf ihre Weise. „Der einzig würdige Kandidat für das Präsidentenamt“, wie es Djipar mit einem Hauch von Pathos formuliert. Alle legen sie Hoffnungen in ihren Präsidenten, doch Akajew ist nicht der Jelzin oder Landsbergis Kirgisiens. Er ist Rationalist, Wissenschaftler, so entwerfe er auch seine Politik. In den Präsidentenrat berief er gleich zu Anfang die junge wissenschaftliche Elite der Republik. Aber Minister, Funktionsträger draußen im Lande und das Parlament hat er nicht angetastet. Gegen vorgezogene Parlamentswahlen sträubt er sich. „Dies ist bisher unser einziger Streitpunkt“, meint Djipar. Vierzehn bis sechzehn Stunden arbeitet Isanow täglich. Seit einem Jahr habe er keinen freien Tag gehabt, seine Begründung für den Aufschub der Wahlen fällt dementsprechend knapp aus: „Neuwahlen würden die notwendigen Reformen aufschieben und unnötige Instabilität schaffen. Außerdem müßte die Verfassung noch geändert werden.“ Auch der junge Landwirtschaftsexperte Beckbolot Talgarbeckow aus dem Präsidentenrat arbeitet an diesem Abend noch, um die alten Entscheidungsstrukturen in der Landwirtschaft noch einmal zu Papier zu bringen. Talgarbeckow, mit den ländlichen Verhältnissen vertraut, ist auch gegen Neuwahlen. Mit den alten Kräften gelte es, das Neue auf den Weg zu bringen. Alles andere würde bei den heterogenen Strukturen und Clanloyalitäten nur zum Scheitern verurteilt sein. Das ist es dann wohl auch, was Akajew unter der schillernden „Seidenrevolution“ versteht. Die Bodenreform folgt einem ähnlich sanften Muster. Privatbesitz an Land wird es erst mal nicht geben. Die ungerechten Siedlungsbedingungen als Folge der Kolonisierung und Sowjetisierung möchte man nicht festschreiben. Statt dessen wird Land verpachtet, und eine Kommission aus allen Nationalitäten soll nach einem einigermaßem gerechten Lösungsweg suchen.

Schon unten in der Empfangsloge beim Pförtner ist man wieder in „Sowjetkirgisien“. Den zweiten Tag funktioniert das Telefon nicht. Hinter der 8 hakt es. Die Empfangsdame tut so, als gäbe es sie nicht. Ihr funktionstüchtiges Telefon rückt sie erst nach mehrmaligen Nachfragen raus. Schließlich ist es ihrs. Russifizierung und Sowjetisierung haben tiefe Spuren hinterlassen.

Auf der Hochzeitsnachfeier von Murat und Dschubsan in einem Neubauviertel am Rande Bischkeks wird nur Russisch gesprochen, nicht aus Höflichkeit. Murat hat sechs Jahre in Moskau gelebt und studiert. Zu seiner Zeit wurde Kirgisisch, ein osttürkischer Dialekt, in der Schule noch gar nicht unterrichtet. Dschulrab, sie ist Historikerin an der hiesigen Universität, legt Daumen und Zeigefinger übereinander, daß kaum eine Rasierklinge dazwischen paßte. „So umfangreich ist die Kurslektüre zur Geschichte Kirgisistans.“ Und sie sagt es mit einer Empörung, als wäre es ihr just in diesem Moment erst zu Bewußtsein gekommen. Unterdessen reichen die Gäste ihre brennenden Zigaretten weiter. Hier wird Kette geraucht, denn Streichhölzer sind nur noch über Bezugsschein erhältlich und Feuerzeuge ein unerschwingliches Kleinod. „Kirgisisch“, erzählt Dschadad, der die Gäste mit seinen Witzen bei Laune hält, „reicht gerade mal für den allerdürftigsten Hausgebrauch.“ Dabei sei er in einer elfköpfigen Familie in einem Dorf aufgewachsen, wo tatsächlich noch die Muttersprache gesprochen wurde.

Die Ambivalenz und das Hinundhergezogensein der Intelligenz ist auffällig. Aber auch das Stadtbild Bischkeks, der „Gartenstadt“, weckt keine orientalischen Assoziationen. Es könnte eine Stadt im europäischen Teil Rußlands sein. Nur intakter und freundlicher, doch das hat etwas mit dem milderen Klima zu tun. Kirgisien, so könnte man meinen, ist Europas heimliche Grenze in Asien.

Noch zur Zeit der Sowjetherrschaft hat davon der Halbdissident und berühmteste Sohn des Landes, der Schriftsteller Tschingis Aitmatow, beredtes Zeugnis abgelegt. Nirgends sonst findet sich die Vermengung beider Welten, diese Art des Synkretismus, so idealtypisch, als wäre es etwas völlig natürliches, wie in seinen Werken. Aitmatows Image hat in den letzten Jahren gelitten. Zu eng war seine Liaison mit der Sowjetmacht.

Doch die kirgisische Intelligenz weiß, daß auch sie sich von der Dominanz des Russischen nicht mehr freimachen kann. Sie will es eigentlich auch nicht. Denn erst die intime Kenntnis der imperialen Kultur Rußlands hat ihr Bewußtsein für die eigene Besonderheit freigesetzt. Laute nationalistische Töne und islamisch fundamentalistische Fanatismen hört man in Kirgisien nicht. Jeder versichert eilfertig, daß derlei Strömungen keine Aussicht auf Erfolg haben. Wiederbeleben der alten Traditionen ja, aber nur soweit, wie es die Öffnung zur Weltgesellschaft nicht gefährdet. Die politische Loslösung von Rußland befürworten alle. Doch behutsam soll sie vor sich gehen. Und von dem Projekt eines neuen Turkestans, das alle mittelasiatischen Republiken in einem Einheitsstaat verbindet, halten sie gar nichts: „Wieder ein neues Reich, eine neue Hegemonie, womöglich fanatischer und schrecklicher als die alte. Das ist für uns keine Alternative.“ Dschukschejewitsch will dafür sogar garantieren. Fundamentalistische Tendenzen zeigen sich kaum, auch wenn sich unter Jugendlichen ein neuer Hang zur Religiösität beobachten läßt.

Isanow achtete peinlichst drauf: „Engere ökonomische Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn streben wir an, aber nicht mehr als mit anderen Ländern, und eben nur wirtschaftlich.“ Diese Position unterstreicht Akajew demonstrativ durch seine außenpolitische Umtriebigkeit. Er war in Japan und den USA. Zu Südkorea und Indien unterhält er beste Beziehungen. Die Angst vor Überfremdung hat den Nationalcharakter geprägt. Die Unterjochung durch einfallende Horden aus dem Inneren Asiens, die Einverleibung durch die mittelasiatischen islamischen Khanate und das sowjetische Kreuz haben die Kirgisen für derlei Gefahren sensibel gemacht und ihnen das Träumen ausgetrieben. Sie sind Pragmatiker mit einer taktischen Identität und dem Überlebenswitz des Unterlegeneren, die es ihnen unter schwierigen Bedingungen ermöglichen, doch noch bei sich selbst zu bleiben. „Auf kollektive Mythen springt der Kirgise nicht an“, sagt Dschadad. Dahinter steckt die „Weisheit der Schwarzen“, der Hirten, Jäger und Bauern — ein philosophischer Relativismus. Auf eine Million Zeilen zurechtgestutzt, findet sich diese Philosophie im „Manas“, dem kirgisischen Nationalepos.