Mut zur Wut

■ Erfahrungen eines Aidskranken, Radio Aktuell, Mi., 16.05 Uhr; Berliner Rundfunk, So., 21 Uhr

„Jäger und Gejagter zugleich, in der Zielgeraden deiner letzten Fährte, vergiß, was du verschwendet, was du gefunden, du hast dein Schwert, die Unbefangenheit verloren!“ Diese Gedichtzeilen des Freundes Christian fand Ernst Häußlinger am Wendepunkt seines Lebens vor. Damals, vor fünf Jahren, entließ man den Schauspieler mit der Verkündigung eines Befundes aus der Klinik: „HIV-positiv.“ Vor der Wucht dieses Schocks ging der 42jährige zunächst in die Knie. Verzweifelt wehrte er sich gegen die Stigmatisierung seiner Krankheit und machte sich gleichzeitig das Leben schwer: In selbstbestimmter Unterdrückung wich er als „Infizierter“ dem Rest der Gesellschaft aus und nahm Demütigungen wie selbstverständlich hin. Was Häußlinger da ohne Pathos und Selbstmitleid erzählt, ist erschütternd. Nicht nur beim Psychologen, beim Sozialamt und der Putzfrau stieß er auf brutale Ignoranz: Selbst seine Kollegen am Theater forderten zum Schutz der eigenen Gesundheit seinen Rausschmiß. Und auch die Mutter vermochte ihrem schwulen Sohn nur Floskeln wie „Wir müssen alle sterben“ zu sagen.

Ganz sachte klagt Häußlinger an dieser Stelle die allgemeine Heuchelei an: „Mit 70 sagt sich sowas leichter als mit 40 — oder 20...“ Doch all die Schocks und Enttäuschungen heizten Häußlingers Selbstbewußtsein an, entfachten seinen „Mut zur Wut“. Und der ist inzwischen sein Lebensmotor. So spricht er von seinem Umgang mit der Immunschwäche als einem zweiten Coming out. Auch das Recht, die Umwelt „zu behelligen“ und über sich zu sprechen, nimmt er jetzt oft in Anspruch. Denn, wie sein Lebensgefährte Christian Noak weiß, „wenn er nicht darüber reden kann, dann geht er ein“.

Mit seiner O-Toncollage für sich und viele Mitbetroffene Toleranz und Verständnis einzuklagen — Kulturkritiker Karlheinz Barwasser gibt Häußlinger die Gelegenheit. Ernst Häußlinger hat sich einen „Baum“ ausgesucht, einen, der ihn verkörpern soll. Wenn er sich plötzlich schluchzend fragt, ob er die nächste Blüte dieses Baums noch erlebt, dann überschreitet dieses Hördokument die Grenze des erzählten Einzelschicksals. Hier geht es um die kollektive Trauer über die Vergänglichkeit des Lebens. Gaby Hartel