GASTKOMMENTAR
: Vukovar, mon amour!

■ Was kommt nach dem serbischen Sieg über die belagerte slawonische Stadt?

Man kann niemanden zur Liebe zwingen — auch nicht zu Mitleid oder zu Solidarität. Aber es ist vielleicht erlaubt, über den Mangel derselben entrüstet zu sein. Das Verhältnis von Europa — und damit sind alle gemeint — zum Krieg in Kroatien, zu den entsetzlichen Kriegsverbrechen, zum Völkermord in Vukovar, Dubrovnik und Sunja und und und ähnelt dem Verhalten eines alten Patriarchen, der vor allzu langer Zeit eine — mehr oder minder legale — Ehe hatte, in ihr Kinder zeugte und sich daran nicht einmal mehr erinnern kann. In ihrer Not schreien sie um Hilfe, doch er fragt: „Wer seid ihr? Ich habe von eurer Existenz nichts gewußt und will auch jetzt nichts davon wissen!“

Vukovar war eine kroatische Stadt an der Donau, in der 20 ethnische Gruppen lebten. Die ethnisch stärkste Gruppe stellten die Kroaten dar, dicht gefolgt von den Serben. Die Verteidiger von Vukovar widerspiegeln sein plurinationales Bevölkerungsgemisch. Den Sommer verbrachten die Kinder der Stadt — wie die meisten Kinder aus dem von Kämpfen schon erschütterten Slawonien — in den verlassenen Urlaubsorten an der dalmatinischen Küste. Sie kehrten zurück, ein, zwei Tage, bevor die Belagerung von Vukovar durch die serbischen Freischärler begann.

Ihre Haare sind grau geworden, ihre Ohren taub von den pausenlosen Bombardierungen einer verbrecherischen Soldateska, die sich nicht scheute, Tausende in den Tod zu schicken, um einen sinnlosen Sieg zu erringen. Zuletzt mußte die Armee ihre Elitedivision nach Vukovar schicken, um den „Sieg“ zu erzwingen. Wer wird den Kindern von Vukovar helfen, dieses Trauma einmal zu verarbeiten, falls sie überhaupt dem Tod entgehen?

Eines der ersten zerbombten Gebäude in Vukovar war das Krankenhaus. Durch übermenschliche Anstrengung ermöglichte die Chefärztin Nevenka Brodarac medizinische Versorgung für Kranke und Verwundete. Die schwierigsten Operationen wurden in den Kellern des Krankenhauses durchgeführt, Babys geboren und verpflegt. Babys, denen die Adern durch die Detonation der Bomben platzten. Milos Vasic, Journalist der Belgrader liberalen Wochenzeitung 'Vreme‘, nennt Vukovar ein „serbisches Gallipoli“. Auf der türkischen Halbinsel Gallipoli wurden 1915 Zigtausende Soldaten in den Tod geschickt wegen einer militärisch undurchführbaren Schnapsidee der Alliierten. Je mehr serbische Soldaten in Vukovar fielen, desto mehr bestärkte sich die Haltung der Generalität, nach dem Motto: „Jetzt erst recht!“

Strategisch hat die Stadt wenig Bedeutung, welchem Ziel die Armee in Slawonien auch immer folgen mag. Hat die Generalität zum Ziel, die „Ustascha-Regierung in Zagreb“ zu stürzen, dann machte sie hier einen sinnlosen Umweg, der unzählige Menschenleben kostete. Und auch wenn es darum geht, Slawonien zu erobern, war es ebenso unsinnig, dies durch die Eroberung einer strategisch unbedeutenden Stadt zu tun. Die Motive für ihr Tun liegen eher in einem Vergeltungszug, der sich im Laufe der Kämpfe verselbständigt hat. Die in ihren Kellern und in den Kanalisationskanälen lebende Bevölkerung hat berechtigte Angst vor drohendem Massaker durch serbische Freischärler. In den umliegenden Dörfern sind schon unbeschreibliche Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen worden. Die Täter werden alles daran setzen, daß die EG-Beobachter nicht zu den Tatorten gelangen.

Die verzweifelte Lage von Vukovar lag auch darin begründet, daß die kroatische Armee keine Mittel hatte, der Stadt zu Hilfe zu kommen. Alle Anstrengungen scheiterten an der Rüstungsübermacht der Belgrader Truppen. Wie wird die kroatische Seite die Niederlage der Stadt, die einen so hohen symbolischen Wert bei der gesamten Bevölkerung Kroatiens hatte, verkraften? Die Angst vor Massakern der serbischen Freischärler wird in Kroatien immer auch begleitet von der Angst, auch die kroatischen Kämpfer könnten Gemetzel anrichten, und daß dadurch Kroatien wieder mit dem Makel der „Ustascha“-Verbrechen behaftet werden könnte.

Die Verteidigung von Vukovar und Slawonien ist seit einiger Zeit dem Kommando der regulären kroatischen Armee unterstellt worden. Nur wenn die Streitkräfte Kroatiens gestärkt werden, kann sich Kroatien gegen die Aggression wehren, aber auch kroatische frei operierende Truppen der Kontrolle unterstellen. Dies hängt aufs engste damit zusammen, daß Kroatien unverzüglich international anerkannt wird und die Möglichkeit bekommt, Verteidigungswaffen anzuschaffen. Das ist nicht nur im Interesse der in Kroatien lebenden Kroaten, sondern auch der Serben, die mehrheitlich eben nicht gegen ein souveränes Kroatien sind. Erst eine kontrollierte Verteidigung kann jetzt die Bedingungen schaffen, daß in Kroatien der Rechtsstaat effektiv funktionieren kann. Die Verlängerung des gegenwärtigen Zustands führt unweigerlich zu politischer Radikalisierung und rechtsfreien Räumen.

Wenn die Zivilbevölkerung von Vukovar durch den Einsatz der EG-Beobachter auch noch gerettet werden kann, was wird mit ihrer Stadt und mit ihren Häusern geschehen? Was wird die Armee mit ihrem Sieg machen? Die Vernichtung der einst schönen Stadt jedenfalls ist eine Wunde in den Seelen der Menschen Kroatiens. Doch dieses Verbrechen ist für die Welt nicht zum Symbol des Unrechts und Leids geworden. Dunja Melcic

Die Autorin lebt als Journalistin in Frankfurt/Main.