INTERVIEW
: „Registratur der Schande“

■ Der Pariser Rechtsanwalt Serge Klarsfeld entdeckte die „Judenkartei“

Die Existenz der von Klarsfeld schon im September im Keller des Kriegsteilnehmer-Ministeriums gefundenen und vorige Woche publik gemachten Kartei war jahrelang von den zuständigen Behörden heftig bestritten worden. Die auf mehrere fiches angelegte Datensammlung über jüdische BürgerInnen wurde auf deutschen Befehl Ende 1940 von der Pariser Polizeipräfektur angefertigt und bestätigt. Sie diente den Deportationen in den Jahren 1941 und 1942.

taz: Ist es richtig, daß diese bislang als verschollen geltende Registratur die Namen von 150.000 Peronen enthält?

Serge Klarsfeld: Das ist exakt. Man hat darin Angaben zur Person von über 85.000 französischen und 65.000 ausländischen Bürgern jüdischer Herkunft der Großregion Paris, des Seine-Departements, erfaßt.

Der Chef des verantwortlichen Ministeriums der ehemaligen Kriegsteilnehmer, der Sozialist Mexandeau, hat erklärt, die Existenz der Kartei sei ein offenes Geheimnis, und Sie würden alles hochspielen.

Das ist absolut unrichtig. Hier ist natürlich vieles kaschiert worden. Überdies hat das Ministerium noch im Jahr 1980 die in der Öffentlichkeit gestellte Frage nach der Existenz der Unterlagen negativ beschieden. Ganz offensichtlich eine Lüge.

Wer hatte und wer hat vielleicht noch heute ein Interesse daran, diese Zeugnisse der Vergangenheit der Öffentlichkeit vorzuenthalten?

Sicherlich die zuständigen Behörden. Grundsätzlich dürfte eigentlich niemand daran ein Interesse haben. Zweifellos kann man, wie es jetzt geschieht, von einer „Kartei der Schande“ sprechen, doch es gibt hier keine Kollektivschuld. Speziell in bezug auf diese Kartei, denn sie wurde ja erstellt von der Polizei und der französischen Administration auf Anordnung der deutschen Besatzungsbehörden.

Gleichwohl werfen diese Unterlagen ein Licht auf die Kollaboration und die diesbezügliche Moral der französischen Politik. Was das verantwortliche Ministerium der Kriegsteilnehmer betrifft, so zeichnete es sich durch die spezifische Mentalität einiger relativ hoher Beamter aus, die gegenüber den jüdischen Bürgern seit 1944 ein unerfreuliches Verhalten zeigten. Bei den Juden handelte es sich eben nicht um die Helden des Widerstandes oder die Teilnehmer an der Befreiung Frankreichs. Sie waren einfach nur verfolgt, weil sie Juden waren. Als ganz konkretes Zeugnis der Judenverfolgung in Frankreich kennzeichnet diese Registratur eben auch das Vichy-Regime, und das sollte der Öffentlichkeit offensichtlich nicht vermittelt werden.

Wie weit ist die Zeit der Administration von Vichy und die Problematik der Kollaboration aufgearbeitet?

Die rein historische Seite weitgehend. Wir haben Dokumente veröffentlicht, die lange ignoriert worden sind. Sie müssen wissen, daß noch vor 15 Jahren die Beteiligung der französischen Polizei bei der Festnahme der Juden verschwiegen wurde. Das historische Geschehen also ist rekonstruiert worden. Gleichwohl ist die Beurteilung der Ereignisse in den Köpfen der Leute etwas konfus. Darüber zu urteilen fällt mir jedoch schwer. Ich habe in meinen Arbeiten nachgewiesen, daß drei Viertel der französischen Juden bei Kriegsende noch gelebt haben und ein Viertel, das heißt 80.000 Menschen, Opfer der Kollaboration der Vichy-Regierung bei der sogenannten „Endlösung“ wurden.

Im europäischen Bereich ist das, rein statistisch gesehen, die am wenigsten schreckliche Bilanz. Man hat in Frankreich den mit dem Tode bedrohten jüdischen Familien geholfen, sie nicht denunziert, obschon es auch hier antisemitische Stimmungen gab. Dieses Resümee hat den Anhängern der Vichy-Regierung mißfallen, ebenso jedoch auch jüdischen Bürgern, die in dieser Hinsicht einen Komplex gegenüber Frankreich entwickelt haben.

Nun ist in der öffentlichen Diskussion über die Registratur ein Gesetz von 1978 ins Gespräch gebracht worden, das die amtliche Erfassung von Angaben zur Religionszugehörigkeit und auch zur Ethnie verbietet. In den Presseberichten wurde nun auch gefragt, ob diese „Registratur der Schande“ nicht auch verbrannt werden müßte. Was denken Sie darüber?

Wollte man dem formalen Recht entsprechen, dann müßten diese Dokumente vernichtet werden. Diese Kartei jedoch ist eine historische Quelle, ist gewisserweise gleichermaßen verflucht und geheiligt. Verflucht, weil sie ein Hilfsmittel zum Töten war, geheiligt, weil eben der Beweis für die grausame Vernichtung einer ganzen Bevölkerungskategorie. Sie zu verbrennen heißt, im Sinne der Täter zu handeln.

Wir meinen, daß dieses Kapitel des Schreckens geschrieben werden, daß es den Namen jedes Opfers enthalten muß. Daher sollte die französische Administration die Unterlagen dem Jüdischen Dokumentationszentrum übergeben.

Die Presse hat im Zusammenhang mit Ihren Entdeckungen Schwierigkeiten beim Zugang zu den Archiven beklagt.

Die Franzosen sind sehr vorsichtig, was den Zugang zu ihrer Vergangenheit betrifft. In den Medien wird darüber zwar gerne gesprochen, doch was die Öffnung der Archive betrifft, so ist dies recht kompliziert. Ich persönlich habe nach jahrelangen Recherchen für die abgeschlossenen und in Arbeit befindlichen Dokumentationen keine Schwierigkeiten gehabt. Gerade habe ich eine Arbeit für das Dokumentationszentrum „Memorial“ beendet. Ich bereitete zahlreiche Dokumente über den Zeitablauf der sogenannten „Endlösung“ vor, das heißt eine Rekonstruktion der Tag für Tag abgelaufenen Ereignisse. Zweifelsohne jedoch leben diese und vergleichbare Arbeiten von der Zugänglichkeit der Archive.

Was denken Sie bezüglich der noch immer anstehenden NS-Prozesse über die oft gestellte Frage, ob den teilweise schon sehr alten Personen noch der Prozeß gemacht werden sollte?

Ich glaube, daß ich prädestiniert bin, darauf zu antworten. Zunächst: wie junge, so haben auch ältere Menschen die gleichen Rechte, eine Verurteilung aufgrund möglicher Straftaten eingeschlossen. Die angesprochenen NS-Verbrecher finden eine grundsätzlich günstige Lage vor, da sie, im Gegensatz zu ihren Opfern, Gelegenheit hatten, ein Leben, ihr Leben, zu leben. Sie können alle Mittel nutzen, die ihnen die Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft bietet. Wenn am Ende ihres Lebens, das sie die längste Zeit in der Akzeptanz der Gesellschaft gelebt haben, ein Urteil steht, das diese ihnen nimmt, weil sie beispielsweise an den Verbrechen der Vichy-Regierung beteiligt waren, dann halte ich das für gerechtfertigt.

Gegenwärtig wird in Frankreich die Wiedereinführung der Todesstrafe nach einem Kapitalverbrechen diskutiert. Was denken Sie darüber?

Ich bin kein Befürworter der Todesstrafe und habe sie auch abgelehnt, als wir sie noch hatten, weil ich meine, daß man einen wehrlosen Menschen nicht töten sollte. Freilich ist auch die Problematik einer tatsächlich lebenslangen Haft kompliziert.

Glauben Sie, daß die gegenwärtige Situation unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Herrschaftsstrukturen in den osteuropäischen Ländern die Aufarbeitung der anderen, der NS-Vergangenheit erschwert?

Das alles begünstigt natürlich die äußerste Rechte. Und sicherlich besteht schon die Gefahr, daß sich Stimmen zu Wort melden, die das faschistische System in verschiedenen Bereichen rehabilitieren möchten. Interview: Nadja Stulz-Herrnstadt, Paris