Europa der Regionen will mitentscheiden

Heute tagt der Ministerrat der EG in Den Haag, um sich mit den Forderungen der Regionen auseinanderzusetzen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„Der Schwerpunkt des politischen Interesses bewegt sich mit dem Gesäß“, so Thomas Goppel, und das sei in erster Linie in den Regionen zu Hause, nicht in Brüssel. Der Europaminister aus Bayern weiß, wovon er spricht. Schließlich bastelt seine Regierung seit Jahren schon unter Vorsitz ihres Ministerpräsidenten Max Streibl an einem „föderaleren Europa“. Dessen Vorgänger Franz Josef Strauß soll sogar „maßgeblich“ an der Gründung eines Dachverbands der europäischen Regionen 1985 beteiligt gewesen sein. 172 solcher Gebilde sind bereits Mitglieder der „Versammlung der Regionen Europas“ (VRE) — einschließlich der jugoslawischen Länder Slowenien und Kroatien sowie einiger polnischer und ungarischer Wojewodschaften. Auch sie wollen Teil dieser Bewegung für eine Erneuerung Europas werden. Von Schottland bis Sizilien, dem Baskenland bis zur Slowakei — insgesamt gibt es etwa 300 dieser Gliedstaaten. Ob Teil der EG oder nicht, allen ist eines gemeinsam: Sie wollen jetzt in Brüssel mitreden. Wie dieses Ansinnen in geordnete Bahnen gelenkt werden kann, wollen die EG-Minister heute in Den Haag beraten. „Subsidiarität ist up to date“, werbetextete der für die Regionen zuständige EG-Kommissar Bruce Millan erst jüngst wieder. Für sich genommen postuliert dieses Prinzip lediglich staatstheoretisch abstrakt die Eigenständigkeit kleiner politischer Einheiten. Was sie selbst leisten und entscheiden können, soll ihnen die größere Einheit nicht entziehen dürfen. Seit zwei Jahren preisen es nun auch Europa- Lenker wie Bundeskanzler Helmut Kohl und der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, als gestalterisches Element des zukünftigen Europas. Aufgeschreckt durch den kommenden Binnenmarkt und die Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa berufen sich inzwischen aber auch Regionalpolitiker jeglicher Couleur auf das Subsidiaritätsprinzip — allen voran die der reichen EG-Kernländer. Die Bayern sorgen sich um ihren Freistaat. Ähnlich geht es den anderen Wachstumsregionen Baden-Württemberg, Elsaß und Rhone-Alpes sowie der italienische Provinz Lombardei. Denn nicht genug damit, daß ihre nationalen Regierungen mit Hilfe der EG immer mehr Macht an sich ziehen. Zunehmend verlagert sich auch das milliardenschwere Gezerre um Fördermittel und Vorschriften nach Brüssel. Ein Teil dieser Gebilde hat sich deswegen bereits in größere Regionen wie Schottland oder in grenzübergreifende Euro-Regionen wie Saarland, Lothringen und Luxemburg (Saar-Lor-Lux) zusammengeschlossen. Um im Konkurrenzkampf nach 92 bestehen zu können, werden weitgehende Umstrukturierungen und Zusammenlegungen geplant. Acht Bundesländer à zehn Millionen Einwohner, so Goppel, seien ideal. Doch besonders die kleinen und die neuen Länder sperren sich noch gegen diese Pläne. Zur Zeit vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Regionalvertreter in der EG-Zentrale vorspricht, um das Prinzip der Subsidiarität praktisch einzuklagen. Denn die EG-Kommission, so ein Regio-Botschafter, „hört immer noch auf regionaler Ebene auf zu denken“. Dies soll jetzt anders werden. Dabei wollen die wenigsten allerdings so weit gehen, wie manche Euro-Grüne, die sich von der Regio- Revolution gleich die Beseitigung der Nationalstaaten versprechen. Doch zumindest sollte eine dem US- Senat vergleichbare europäische Nationalversammlung eingerichtet werden, fordert der katalanische Regierungschef Jordi Pujol. Gewichtige Unterstützung erhielt er Anfang November, als der Bundesrat, wie sich die zweite deutsche Kammer nennt, in Aktion trat. Einstimmig drohten die Ländervertreter an, ihre Zustimmung zu dem zur Zeit ausgehandelten Vertrag über die politische Union der EG zu verweigern, sollte ihre Forderung nach einer eigenständigen Vertretung der Regionen auf Europaebene nicht aufgegriffen werden. Eine dritte Kammer neben dem Europäischen Parlament und dem EG-Ministerrat wird gewünscht. Ersatzweise würden sich die aufmüpfigen Regionalis auch mit der zweiten Kammer zufrieden geben — als Ersatz für den Ministerrat. All diese Rechnungen scheinen allerdings ohne den Wirt gemacht. Denn die EG-Institutionen sind — aus unterschiedlichen Gründen — wenig begeistert darüber, daß ihr Slogan plötzlich ernst genommen wird. „Aufgrund des unterschiedlichen Grads der Autonomie der europäischen Regionen“ hält Kommissionschef Delors deren Einbeziehung „in den förmlichen Entscheidungsmechanismus der EG für derzeit nicht möglich“. Auch das Europaparlament ist über die Teilhabe der Regionen am Entscheidungsprozeß zerstritten. Man will erst selbst etwas zu melden haben. Und im EG-Ministerrat stößt die Idee eines Regionen-Senats auf völlig taube Ohren, liefe dies doch auf eine Teilung der Macht hinaus. Bundesstaat oder Staatenbund, dies ist für die EG-Regierungen im Moment keine Frage — auch wenn Jugoslawien im Bürgerkrieg versinkt, die CSFR sich zu spalten droht und das Sowjetreich auseinanderfliegt. Schließlich haben sie sich nicht umsonst mit Hilfe der EG von den lästigen Aspekten ihrer Nationalstaaten weitgehend emanzipiert, seien es Parlamente oder Regionalregierungen. Einmal auf dem Zenit ihrer Machtfülle angelangt, wollen sie dort auch verweilen. Der EG-Slogan „Europa der Regionen“ dient dabei lediglich der Imageförderung, als Konzept für die Neuordnung Gesamt-Europas ist er ihnen zu radikal.

Realisten unter den Regionalisten haben dies bereits eingesehen: Statt einer dritten Kammer fordern sie deswegen nur noch einen „beratenden“ Ausschuß der Regionen in Anlehnung an den in Brüssel bereits beheimateten Wirtschafts- und Sozialausschuß. Daß sein Vorbild ein ebenso einflußloses wie honoriges Ruhestandsgremium für abgehalfterte Gewerkschafts- und Industrieverbandstechnokraten ist, schreckt den bayerischen Regionalisten nicht im geringsten. Denn im Unterschied zu dieser Organisation werden „wir unsere besten und wichtigsten Köpfe dorthin schicken. Sie werden so manche Außenministerrunde überflügeln“. Einen ersten Sieg haben Regio-Revoluzzer bereits errungen. Bei ihrer Klausursitzung letzte Woche stimmten die EG-Außenminister überraschend der Forderung nach einem beratenden Ausschuß zu — sogar ein Klagerecht soll den Regionalis eingeräumt werden.