: „Jetzt schieben wir 'ne ruhige Kugel“
Seit einem Vierteljahrhundert treffen sich die Arbeiter der Buna-Chemiewerke jede Woche zum Kegeln/ Nach dem „großen Rausschmiß“ ist die ehemalige Betriebssportstätte jetzt das einzige, was sie noch mit ihrem früheren Arbeitgeber verbindet ■ Aus Schkopau Nana Brink
Die Zeit ist stehengeblieben im Schkopauer Lauchagrund. Zumindest jeden Mittwoch. Dann hängen wie seit Jahren fein säuberlich in Reih und Glied die Prinz-Heinrich- Mützen am Garderobenständer in der Kegelhalle am „Lauchagrund“. Alexander Beljan (60) und Adolf Solansky (62) sperren wie seit 25 Jahren die Halle auf, drehen die Sicherungen herum, schalten die Kegelaufstellanlage an und packen ihren grünen Sportdreß aus. Jetzt treffen sich die Ex-Bunesen mit ihren Keglerkollegen vom SKC Buna Schkopau zum „Senioren-Nachmittag“.
„Seit wir ein richtiger Verein sind und keine Betriebssportstätte mehr, haben wir auch einen Senioren- Nachmittag“, erklärt Alexander Beljan, und es klingt, als sei dies keine schwerwiegende Veränderung. Nach dem Training auf der Asphaltbahn und der dritten Runde Bier in der vereinseigenen Kneipe, einer kleinen Wohnzimmerstube, holt Beljan ein in braunes Leder gebundenes Buch mit abgegriffenem Goldrand aus dem Schrank unter der Theke. Dann verfällt die Altherrenrunde unter Clubrauchschwaden — wie jeden Mittwoch — ins Anekdotenerzählen.
„Deine Frau war Weltmeisterin!“ sagt Adolf Solansky und stößt Beljan anerkennend in die Seite. „Ja, die Hilde“, Beljan blättert die Seite mit den Schwarzweißbildern in gemalten Zierrahmen auf und zeigt auf seine Frau: ein strammstehendes junges Mädchen in kurzen weißen Pumphosen, einen Blumenstrauß in der Hand, die Hand des Generaldirektors der Buna-Werke schüttelnd. „Das war 1959, da war sie Weltmeisterin im Einzel, in Bautzen.“ Der Stolz über Beljans Frau überträgt sich auf die ganze Runde. Als sei alles erst gestern gewesen. „Also — Gut Holz, Holz, Holz! Mensch Erwin, bring doch noch ein Bier.“
„Uns geht es gut“
25 Jahre lang war Alexander Beljan Elektriker im Kraftwerk der Buna- Werke, und „keinen Tag war ich krank“. Seit dem „großen Rausschmiß“ 1990, dem ein Schlaganfall folgte, ist er im Vorruhestand, wie die meisten seiner Freunde. „Aber jetzt können wir immer schon um 2 Uhr in die Halle, wenn die anderen noch im Feierabendverkehr da draußen auf der Merseburger Landstraße stecken.“ Der „Lauchagrund“, einen Steinwurf von den Buna-Werken entfernt, liegt direkt in einer Mulde unter der Schnellstraße. „Ich bin gern gegangen“, sagt Beljan, und Adolf Solansky, fast drei Jahrzehnte in der Fräserei beschäftigt, nickt zustimmend. Leise fügt er hinzu, daß „wir Senioren nun einen schönen Feierabend haben“. Von Parteitag zu Parteitag habe man doch gehofft, „daß wir nicht bis 65 oder länger schrubben müssen“, und „wenn die Mieten nicht steigen, geht es uns doch sehr gut“. „Ja“, fährt Solansky dazwischen, „wir haben jetzt unsere Ruhe hier in Schkopau, denn wir leben nicht mehr in der Einflugschneise vom Merseburger Flughafen. Die ganzen dicken Brummer sind weg. Der Laucha-Fluß ist auch schon ein bißchen sauberer geworden.“ Und vor allem, Beljans Augen glänzen hinter den dicken Brillengläsern, „wir haben doch die Halle“.
1955 wurde die Kegelhalle „Lauchagrund“ als Betriebssportstätte der Buna-Werke gebaut. Beljan selbst hat mit Hand angelegt, als die Mauern der Halle mit Abbruchsteinen aus der Umgebung hochgezogen wurden. Die Asphaltbahn wurde erst 1988 durch eine Plastebahn ersetzt. Bis heute — und darauf sind die Buna-Kegler stolz — gilt der „Lauchagrund“ als Topadresse der Kegeldisziplin „Asphalt“ unter den Kegelhochburgen in Sachsen-Anhalt. „Kein Wunder“, meint Beljan, der 15 Jahre lang hauptamtlicher Hallenwart war, „denn wir haben doch alles in Schuß gehalten und jede Strippe selbst verlegt.“
Mit der Liebe des Eigenheimbesitzers erinnert sich der Kegler an jede Veränderung: 1972 war ein großes Jahr, als die erste Kegel-Aufstellanlage kam, und 1988 ein noch größeres — da kam die zweite, „topmoderne“, gerade noch rechtzeitig vor der Wende. Ein Jahr später hätten die Buna-Werke, die an die dreißig Betriebssportstätten unterhielten, wohl kaum das Geld für eine neue Anlage lockergemacht. Über die Anlage hatten selbst die Freunde vom Kegelverein im fränkischen Steigbindlach gestaunt, die zweimal im Jahr zum Freundschaftsspiel kommen.
Bislang haben sich die Buna- Werke „richtig freundschaftlich“ verhalten, meinen die kegelnden Ex- Bunesen. Seit einem Jahr darf der neugegründete Verein die Halle erst einmal kostenlos nutzen. Der ehemalige Arbeitgeber liefert zudem noch betriebseigene Heizenergie und Elektrizität. Immerhin spart man damit 50.000 Mark im Jahr. Die Mitgliedsbeiträge der inszwischen 150 Mitglieder allein, die zwischen zehn und einer Mark im Monat liegen, könnten den Verein nicht am Leben erhalten. Und ein Sponsor, angesehen von gelegentlichen Materialspenden, ist nicht in Sicht.
Kegeln ist eine ernste Sache
Blitzblank geputzt ist die zartgelb getünchte Halle, die kleine Zuschauertribüne ist frisch gebohnert, die große Tafel zeigt in säuberlich mit weißer Kreide gezogenen Kästen die Spielergebnisse. In den klar polierten Fenstern spiegelt sich die Neonbeleuchtung. Übersieht man die drei Firmenschilder am Kopfende der Halle, ähnelt das Bild fast dem Foto aus dem Vereinsbuch aus dem Jahr 1957. Unter den Schildern steht noch: „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat“.
Kegeln ist eine ernste Sache. In der Halle wird weder geraucht noch getrunken. Betreten darf man sie nur mit Turnschuhen. Mittwoch nachmittag gegen 14 Uhr legen die alten Herren ihre alte grüne Vereinskluft mit dem neuen Vereinsemblem an. Konzentriert wägen sie die Kugel in den Händen, fachmännisch und schweigsam beobachtet von den Kollegen, tänzeln vor der Abwurfmarkierung und verfolgen, von der Zehenspitze bis zur Haarwurzel gespannt, den Lauf der Kugel. „Wir trainieren hart“, sagt Beljan, „jedes Wochenende müssen wir ja einen Wettkampf spielen.“ Der Schweiß lohnt sich. Eine der beiden Herrenmannschaften (jeweils sechs Spieler) wetteifert in der Landesliga, ebenso eine der drei Damenmannschaften mit der Ex-Weltmeisterin an der Spitze. Die anderen spielen in der Bezirksliga. „Im Grunde ist alles wie früher“, Michael Gärtner (36), der neue Vorstand des Vereins, ist da nicht so zuversichtlich wie seine Kollegen. Auf seinen Schultern ruht nun die Geschäftsführung, das neue Vereinsgesetz, die jährliche Abrechnung, und so weiter. „Ich hoffe nur, daß wir die Halle zu einem symbolischen Wert von den Buna-Werken kaufen können und daß nicht irgendein Investor aus dem Westen kommt und einen Baumarkt da hinbaut.“ Nicht auszudenken, grübelt Gärtner, der schon als Zehnjähriger hier Kegel aufgestellt hat. Momentan steht er auch in Verhandlungen mit der Gemeinde Schkopau, die die Kegelhalle als Gemeindesportstätte übernehmen soll. „Wir sind doch ein offener Verein, hier können auch Nichtmitglieder kegeln.“ Aber Schkopau hat andere Sorgen.
Nach dem mittwöchlichen Training trifft sich Gärtner oft mit den alten Herren in der Kneipe. „Wir sagen dann immer“, lacht Gärtner, die „Familie schiebt 'ne ruhige Kugel.“ Dann wird geknobelt, gesungen und Doppelkopf gespielt. Und manchmal wird es schon etwas später, bis die letzte Prinz-Heinrich-Mütze vom Garderobenständer verschwindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen