Fröhlich, aber hoffnungslos

■ »Life is sweet« von Mike Leigh im Moviemento/Sputnik: Die einfühlsam und hintergründig erzählte Geschichte zweier »Working class Heroes«

Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnen müssen, daß die Abnormität ausgerechnet hinter den normgerechten Kleinbürgerfassaden handtuchgroßer Reihenhäuser fröhliche Urstände feiert. Das ist in Winsen an der Luhe so und auch im altehrwürdigen United Kingdom nicht anders. Der neueste Film des High Hopes-Regisseurs Life is sweet hat eine ganz private, aber darum nicht harmlose Kulisse. In einem britischen Arbeitervorort wohnen Andy und Wendy — in Reihenkultur — ihr bescheiden- bürgerliches Leben ab. Die beiden halbwüchsigen Zwillingstöchter Natalie und Nicola sind zwar auf eine Art schon etwas sonderbar, aber irgendwie läuft das Leben ja dann doch immer wieder weiter. Auch wenn Nicola sich und jede Form von Essen verweigert. Auch wenn sich Natalie, in das Leben eines männlichen Klempners flüchtend, asexueller gibt als ein vergessenes Damenfahrrad. Warum schnattert und lästert Wendy tagein, tagaus wie eine überdrehte Aufziehpuppe? Vielleicht ist das Leben doch nicht so süß. Womöglich ist der ramponierte Imbißwagen nicht nur Andys tagferne Utopie ökonomischer Selbständigkeit, sondern gar dessen letzte verrostete Zuflucht vor der Realität seiner Familie. Mike Leigh erzählt die Geschichte seiner Working-class-heros Andy und Wendy auf höchst einfühlsame und hintergründige Weise. Unentwegt läßt er seine Figuren über sich, die anderen und die Welt lachen, was das Zeug hält, und beschreibt doch mit jedem hysterischen Kiekser zuallererst ihre abgrundtiefe Verzweiflung. Nebenhandlungen am Rande, wie die mißglückte Eröffnung eines französischen Feinschmeckerlokals, entwickeln sich zu grotesken Slapstickszenen, werden weidlich ausgekostet, um dann von einem Bild zum andern in schmerzhaft dichte Traurigkeit abzukippen. Die Lage scheint fröhlich, aber hoffnungslos. Jede Figur ist auf ihre Weise bizarr und komisch, traurig und verzweifelt. Und unglaublich authentisch. Das mag vor allem ein Erfolg der ungewöhnlichen Arbeitsweise von Mike Leigh sein. Denn der Regisseur ging in Life is sweet ohne ausgearbeitetes Drehbuch an den Set. In Diskussionen und Improvisationen mit seinen Schauspielern wurden aus den vorläufigen Absichten und vagen Gefühlen allmählich Sätze, Handlungen und eine bemerkenswert alltägliche Geschichte.

»Private — keep out« hat Nicola an ihre Zimmertür geschrieben. Es ist ein Zutrittsverbot vor allem zu ihren verborgenen Gefühlen. Nicht einmal Mike Leigh kann die Quelle ihres Selbsthasses und ihrer Bulimie ergründen, aber er vermag Nicola in ihrem kotzenden Elend gnadenlos beeindruckend darzustellen.

Trotz aller Probleme ist Life is sweet nicht nur ein pessimistischer Film. Denn wenn Andy am Ende über einen simplen Löffel stolpert und sich ein Bein bricht, bricht damit auch das familiäre Schweigen. Was Fakt ist, wird Realität, Veränderungen scheinen möglich. Klugerweise endet der Film just an dieser Stelle, und gerade diese Selbstbeschränkung in den letzten Sekunden macht ihn endgültig perfekt. klbr.

Life is sweet ab heute im Moviemento und Sputnik