Ein kalter Horror-Witz

■ Das »2.Fantasy Filmfest« mit einer Delikatesse im Kant-Kino

Sicher ist jeder Film ein Phantasie-Produkt, aber nicht jeder Film ist deshalb gleich ein phantastischer. Das Genre des »Phantastischen Films« ist ein recht disparates, fallen hier doch Horror, Science Fiction und Fantasy, also Hanibal Lector, Luke Skywalker und E.T. munter in ein Genre zusammen. Das zeigt sich auch beim 2.Berliner Fantasy Filmfest, das ein volles Programm mit sechzig Filmen aus 70 Jahren Fantasy-Geschichte vorstellt. Offensichtlich stolz auf ihre lange Genregeschichte, zitieren sich viele der neueren Streifen munter und fortwährend selbst, wie zum Beispiel — nomen est omen — The Borrower, und viele haben es gar nicht mehr nur auf unsere Gänsehaut abgesehen: Zuweilen mischen sie dem wahren Grusel noch eine gehörige Portion Komik bei und zwingen den Zuschauer, mal lachend, mal staunend, mal gruselnd, gleich mehrfach in die Gesichtsstellung »offener Mund«.

So geschehen auch beim Eröffnungsfilm des Festivals, dem filmischen Leckerbissen Delicatessen der beiden Franzosen Jeunet und Caro. Das Meisterwerk, inzwischen Anwärter auf den Titel »Europäischer Film des Jahres« und Preisträger für das beste europäische Production- Design, brachte als gelungener Festival-Auftakt das Berliner Publikum so richtig auf den phantastischen Geschmack.

Delicatessen (Kinostart im Frühjahr 1992) spielt in einer gar nicht so fernen Zukunft, in der die Fleisch- Liebhaber aller Länder endgültig das Nachsehen haben. Saatgut ist inzwischen zu einer so begehrlichen Ware geworden, daß das gelbe Korn zur Tauschwährung und damit zum Gold des 21.Jahrhunderts geworden ist. Aber was macht in diesen eiweißmageren Zeiten ein Fleischer ohne Fleisch? Woher die Leber, Nieren, Herzen nehmen, für die es zweifelsohne einen guten Absatzmarkt gibt? Hin und wieder verschwindet ein armer Mensch in den verwaisten Arbeitsräumen des schmierigen Schlachters, und dann freut sich die ansässige Hausgemeinschaft über Leberpfanne und Herzragout. In diese traute Gourmet-Runde gerät der ausgemusterte Clown Louison: Heimat-, arbeits- und scheinbar ziellos dient er sich dem Fleischer als »Mädchen für alles« an und empfiehlt sich so nichtsahnend der hungrigen Hausgemeinschaft als zarter Sonntagsbraten.

Jeunet und Caro verstehen es meisterhaft, die blutrünstigen Gedanken hungriger Schlachter mit dem bebrillten Charme kluger, aber schüchterner Fleischerstöchter zu paaren. Die gierige Hausgemeinschaft könnte dem Gruselkabinett des Dr. Caligari entsprungen sein, und doch sind es nur die armen Schweine von nebenan. Eine skurrile Wendung jagt die nächste. Nichts nimmt einen erahnbaren Lauf, und am Ende siegt natürlich einzig die Liebe unter Vegetarierfreunden.

Das Festival-Publikum goutierte das zur Schau Getragene mit viel Applaus und labte sich vor und nach dem »Horror-Witz« magenfest an gesponsorten Eisbomben und freiwilden Drinks in der festivalen »Space-Bar«. Diese bleibt wie das gesamte Kant- Kino noch bis zum Wochenende fest in der Hand von Nosferatus Freunden.

Neben den 40 aktuellen Premieren bietet das Film-Fest eine 10teilige Hommage an vergessene Highlights der 80er Jahre, eine Stummfilmauswahl mit Klavierbegleitung und die Garantie einer permanenten Gänsehaut. Wenn nicht vom Flimmern der Leinwand, dann doch sicher vom Fehlen einer brauchbaren Heizung im Kant-Kino. Klaudia Brunst