DEBATTE
: Kuckuckseier

■ Das Militär ist institutionalisierte Unmenschlichkeit per se

Wenn es je eine historisch beglaubigte politische Wahrheit gegeben hat, so diese: Unter allen Institutionen, die staatlich organisierte Gesellschaften hervorgebracht haben, ist das Militär die einzige, die, außer unproduktiv zu sein, auch noch kontraproduktiv, nämlich menschenfeindlich ist.

Nahezu unbeeinflußt von Revolutionen und Konterrevolutionen, von Wirtschaftskrisen und Regimewechseln, von Zwischenkriegsperioden und politischen Friedensstrategien beansprucht das Militär aller Staaten in allen Teilen der Welt mit Erfolg den konstantesten Anteil am Steueraufkommen der Völker — über die Jahrzehnte, die Jahrhunderte hinweg ist dieser Anteil mit wenigen Unterbrechungen immer nur gestiegen. Niemand leistet sich vergleichsweise mehr Militär als die armen Nationen dieser Erde. Nirgends absorbiert diese Institution mehr technische Intelligenz, beschäftigt sie mehr Forscher, steht ihr mehr Wissenschaft dienstbar zur Verfügung als bei den Reichen, den Überentwickelten der Weltgesellschaft.

Die Institution rechtfertigt sich vor denen, deren Ressourcen sie verbraucht, damit, die Menschen zu schützen. Tatsächlich aber tut sie genau das Gegenteil: Zerstörung, Vernichtung, Tod — oder deren Androhung — ist ihr Geschäft und ihre Methode, zu der sie ihre Mitglieder ausbildet und wozu sie sich ausrüstet.

Das, wovor sie die ihr untertanen Menschen zu schützen vorgibt, das produziert sich das Militär spiegelbildlich selbst: den militärischen Gegner. Die Militärs aller Staaten sind aus demselben Holz geschnitzt, aus demselben Geist geboren, sind demselben Weltbild verpflichtet — sie sind austauschbar; heute unterscheiden sie sich nicht einmal mehr in der Farbe ihrer Uniformen oder der Herkunft und dem Fabrikat ihrer Waffen.

Wenn Militärs zu „denken“ beginnen...

Wann immer Militärs sich in Bewegung setzen, politisch aktiv werden, zu „denken“ beginnen, ist das Unheil vorprogrammiert: keine Region der Erde, aus der nicht in den letzten zwölf Monaten mindestens ein versuchter oder gelungener militärischer Staatsstreich berichtet wurde. Staatsstreich — das sagt und schreibt sich so leicht hin: dahinter verbirgt sich jedoch Bürgerkrieg, Repression, Blutvergießen, Mord — und seine Konsequenzen bedeuten den Ruin von in der Regel ohnehin prekären Volkswirtschaften, die Verarmung der Ärmsten, denn außer von der Eigenausrüstung und Selbstbedienung ihrer Institution verstehen Militärs von Wirtschaft absolut nichts. Wenn es dann gar nicht mehr weitergeht, ziehen sie sich großzügig in ihre Kasernen zurück, nicht ohne sich rechtliche Garantien gegen Strafverfolgungen gesichert zu haben.

Nicht Krieg, schon gar nicht die sogenannte Verteidigung des Vaterlandes ist der selbstgewählte Auftrag der uniformierten Gewalttäter, sondern die Macht im Staat, oder doch wenigstens die Aufrechterhaltung eines solchen Staates, in dem sie sich ihrer gesicherten Privilegien erfreuen können. Ungehemmt und ungehindert unterdrücken, foltern, morden sie in Haiti — morgen werden sie die Macht wieder abgeben, so als wäre nichts gewesen.

Schamlos verachten sie den Wahlwillen der Bevölkerung — so wie ihre Kollegen in Birma, das von keiner Staatengemeinschaft geächtet wird, obwohl dort sogar eine Friedensnobelpreisträgerin und gewählte Repräsentantin de facto im Gefängnis sitzt; man ist erinnert an den Fall Carl von Ossietzkys, 1935. Der kleine demokratische Lichtblick Sambia wird von einer afrikanischen Dunkelzone unmittelbarer oder verdeckter uniformierter Herrschaft fast erdrückt — wer erinnert sich noch, wie der Lumumba-Mörder Mobutu im größten und potentiell reichsten Land des schwarzen Kontinents an die Macht kam?

Man sage nicht, achselzuckend- deprimiert: „Dritte Welt“. Auch mitten in Europa sind die Militärs aus ihren Raubtierkäfigen ausgebrochen und verwüsten wie wilde Tiere eine Kulturlandschaft, die wir historisch befriedet glaubten. Schamlos, brutal, primitiv, die Hirne ihrer Generäle unter dem Niveau des Steinzeitmenschen, richten sie ihre Geschütze gleichermaßen lachend auf Menschensiedlungen und denkmalgeschützte Kulturgüter. Wer wird sich ihre Namen und Adressen aufschreiben, um sie dereinst, nachdem sie Dubrovnik zerschossen haben werden, vor ein internationales Tribunal zu bringen? Auch diese Armee war doch wohl einst geschaffen worden — oder hatte sich so legitimiert —, um die Völker des Staates Jugoslawien vor dem äußeren Feind zu schützen (der bis vor kurzem Sowjetunion hieß).

Um sich jetzt vor diesen Völkern zu schützen, hetzen sie eines gegen das andere und gewinnen sich dadurch wieder eine, wenn auch jeweils reduzierte Basis, die sie nun zu verteidigen vorgeben. Das aus Völkern bestehende Volk bleibt dabei auf der Strecke: es werden ihm bewußt Wunden des Hasses geschlagen, die erst in Generationen vernarben können. Die Toten jedoch kann kein späteres Mahnmal wiederbeleben.

Auch bei den auseinanderfallenden Völkern der Sowjetunion, die sich in souveränen Staaten neu organisieren wollen, sieht es nicht besser aus: Das erste Kuckucksei, das ihnen ihre politischen Führer in das noch kaum gemachte Nest legen wollen, ist — eine eigene Nationalarmee. Tun sie es, um der Souveränität ein kräftiges, materielles Symbol der Verdinglichung zu geben, ohne dabei das Militärische im Militär ernst zu nehmen? Dann werden sie sich und die von ihnen regierten Menschen bitter täuschen: Der Kuckuck wird wachsen — die spätere Blutspur ist vorprogrammiert.

Siege der Vernunft sind dennoch möglich

Und bei uns? Die List der militärisch- politischen Unvernunft bringt uns auf einmal, ganz von ungefähr und ohne den Vorwand zumindest eines historischen Jahrestages zum Beispiel, eine Scharnhorst-Diskussion ins Haus ('Der Spiegel‘), hinter der sich verschämt-unverschämt die Frage nach dem Sinn einer Bundeswehr versteckt. Ist doch der Feind, gegen den sie vorgeblich aufgestellt worden war (vorgeblich: denn Konrad Adenauer, der instinktsichere Machtpolitiker, wußte genau, daß diese Armee nichts gegen „Rußland“ bedeutete, sondern nur Sinn hatte, um der jungen Bundesrepublik ein politisches Gewicht innerhalb des Westens zu geben), nicht mehr da. Der Generalinspekteur rechtfertigt die Notwendigkeit unseres Militärs damit, daß „die Menschen unverändert zum Guten wie zum Bösen fähig sind“ — der (deutsche) Mann in Uniform ist darum logischerweise Beschützer und Verteidiger des Guten. Fast schon könnte man die primitive Weltsicht dieser Herren komisch nennen — wenn sie nicht mit tödlichen Instrumenten und Massenvernichtungsmitteln (gegen das Böse) ausgerüstet wären.

Erhalten wollen sie sich und ihren Stand um jeden Preis — und da physische Gewalttätigkeit beziehungsweise die Bereitschaft dazu und das Monopol über sie der kleinste gemeinsame Nenner aller Politik ist, läßt sich auch das politische Europa anscheinend am leichtesten konkretisieren, indem man zuerst die nationalen Armeen fusioniert. Wer möchte angesichts des Projekts eines deutsch-französischen Armeekorps als Kern einer europäischen Armee und diese wieder als Fundament eines politischen Einheitseuropas so schlicht und naiv sein, zu fragen, worin denn der Zweck dieser Institution bestehe? Man wird sich schon einen Sinn für die institutionalisierte Unmenschlichkeit einfallen lassen.

Umgekehrt sollte nach allen historischen und aktuellen Erfahrungen die Zeit reif sein für Formulierungen, die diese Institution mit den Namen und Begriffen belegt, die sie verdient. Zumindest eine andere mächtige historische Institution organisierter Unmenschlichkeit ist vor wenig mehr als hundert Jahren nach einem langen und mühsamen Kampf des aufgeklärten Idealismus und der Moral gegen Obskurantismus und partikulare ökonomische Interessen überwunden und zu Grabe getragen worden: die Sklaverei. Siege der Vernunft über die Barbarei sind also durchaus möglich. Ekkehard Krippendorff

Der Autor ist Hochschullehrer an der FU Berlin und veröffentlichte 1985 „Staat und Krieg“