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Demokratischer Aufbruch in der Türkei?

Eine neue Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen einigt sich auf gemeinsames Regierungsprogramm Demirel zum siebten Mal Ministerpräsident/ „Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel Vergnügen diese Arbeit bereitet“  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Der Volkswille überrennt den Willen der Militärjunta“, kommentierte der Kolumnist der großen türkischen Tageszeitung 'Hürriyet‘, Emin Cölasan, das Ereignis: Die neue türkische Regierung steht. Die „Partei des rechten Weges“ (DYP) und die „Sozialdemokratische Volkspartei“ (SHP) einigten sich auf eine neue Regierung.

Selten waren sich die türkischen Kolumnisten so einig wie heute. Rundherum wird die Koalition der ungleichen Brüder gefeiert. Die konservative DYP und die sozialdemokratische SHP haben sich zu einer Koalitionsvereinbarung durchgerungen, die die letzen Spuren des Militärputsches von 1980 beseitigen soll. „Die Menschen dieses Landes werden zuerst einmal den Wohlgeschmack der Menschenrechte kosten“, prophezeit der neue Premier Süleyman Demirel, der im Wahlkampf angekündigt hatte, daß die Türkei ein „Land ohne Verbote“ werden würde.

Der Altpolitiker Demirel, den die Militärs 1980 aus seinem Amt gejagt hatten, wird somit zum siebten Mal Ministerpräsident des Landes. Seine Partei des rechten Weges hatte bei den Parlamentswahlen am 20. Oktober 27 Prozent der Stimmen errungen, während die Sozialdemokratische Volkspartei 20 Prozent auf sich vereinigte. Die beiden Koalitionsparteien verfügen zusammen über 266 Sitze im 450köpfigen Parlament. Die Sozialdemokraten werden 12 der insgesamt 32 Minister stellen. Wichtige Ministerien, darunter das Außen- und Justizministerium, gehen an die Sozialdemokraten. Auch der neu geschaffene Posten eines Staatsministers für Menschenrechte wird von einem Sozialdemokraten besetzt.

Die Programmpunkte, auf die sich die Konservativen und die Sozialdemokraten als Koalitionsgrundlage geeinigt haben, sind für türkische Verhältnisse tatsächlich revolutionär. Das von der Militärjunta diktierte Parteiengesetz soll einer gründlichen Revision unterzogen werden, ebenso wie das repressive Gewerkschaftsgesetz. Den internationalen Konventionen zu Menschenrechten, die von der Türkei zwar unterzeichnet, aber nie in die Realität umgesetzt wurden, soll endlich Geltung verschafft werden. Die Polzeihaft — systematische Folter war gängige Praxis — soll auf 24 Stunden reduziert werden. Eine neue gesetzliche Regelung soll ermöglichen, daß während der Polizeihaft ein Anwalt hinzugezogen werden kann.

„Gläserne Polizeiwachen“ war ein Wahlkampfspot Demirels, der auf die schreckliche Folterpraxis gemünzt war. Auch das berüchtigte Anti-Terror-Gesetz, das im Frühjahr dieses Jahres von der „Mutterlandspartei“ des Staatspräsidenten Özal verabschiedet worden war und Folterer in Schutz nahm, soll einer gründlichen Revision unterzogen werden, ebenso wie das Polizeigesetz, das staatlicher Willkür freien Lauf ließ. Die Gesetze, die Verbannungen und Zensur ermöglichten, sollen sogar ganz abgeschafft werden.

Auch andere Erblasten der Militärs sind betroffen: So sollen autonome Selbstverwaltungsstrukturen an die Stelle der bisherigen Gleichschaltung der Universitäten und des staatlichen Rundfunks und Fernsehens treten. Ebenso soll mit dem Regieren durch „Dekrete per Gesetzeskraft“ — gängiges Instrumentarium der Mutterlandspartei, um der parlamentarischen Kontrolle zu entgehen — ab jetzt Schluß sein.

„Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wieviel Vergnügen diese Arbeit bereitet“, bekannten die Generalsekretäre der beiden neuen Regierungsparteien, Gökberk Ergenekon und Hikmet Cetin, die als Architekten der Koaltionsvereinbarung gelten. „Die bisherige Regierung, die nur eine Fortsetzung des Putsches vom 12. September 1980 war, ist gefallen“, sagte Ergenekon sichtlich gut gelaunt vor Vertretern der Presse: „Jetzt kommen die Gesetze dran.“

Die neue Koalition verfügt zwar über die absolute Mehrheit im Parlament. Doch reichen die Stimmen der Koalitionsparteien nicht, um die Verfassung, die die Militärs 1982 oktroyierten, zu verändern. Für Verfassungsänderungen müssen Bündnispartner im Parlament gesucht werden.

Geändert werden soll unter anderem der Übergangsparagraph 15 der türkischen Verfassung, von dem die Koalitionspartner sagen, er „widerspricht internationalem Recht“. Dieser Paragraph verbietet es, Handlungen der Militärjunta aus den Jahren 1980 bis 1983 rechtlich zu verfolgen. Zentrale Figuren des neuen Kabinetts waren bis 1983 von den Militärs hinter Stacheldraht interniert.

Doch in der Kurdenfrage zeichnet sich keine Kursänderung in den Grundlinien der Politik ab. Im Koalitionsprotokoll heißt es: „Der türkische Staat, seine Landesgrenzen und seine Nation sind eine unteilbare Einheit“. Andererseits soll aber die „kurdische Identität“ anerkannt werden. Kurdische Bücher und Zeitungen sollen frei erscheinen dürfen. Der Gründung eines Kurdischen Institutes steht, so Ergenekon und Cetin, nichts im Wege.

Offensichtlich ist die neue Koalition bemüht, die schlimmsten Auswüchse des blutigen Krieges zu beseitigen — die Institution der Dorfmiliz, die den Bürgerkrieg in Türkisch-Kurdistan bislang anheizte, soll einer Revision unterzogen werden. Eine radikale Neuorientierung, die das Selbstbestimmungsrecht der Kurden miteinschließen und ein Ende des Bürgerkrieges einleiten könnte, bleibt jedoch in der türkischen Politik Tabu.

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