In Bulgarien gehen die Lichter aus

Mit dem Weiterbetrieb des AKWs Kosloduj ist Bulgariens Energienotstand nicht beizukommen/ Kohle steht an erster Stelle auf der Bedarfsliste — noch vor den Ersatzteilen aus Greifswald/ Angst vor kaltem Winter  ■ Aus Sofia H.-J. Tenhagen

Im Restaurant geht nach der Vorspeise das Licht aus. Unsere bulgarischen Betreuer bemerken fast schon lakonisch: „Stromregime“. Stromregime ist seit dem vergangenen Winter das Schreckenswort für die meisten Bulgarinnen und Bulgaren. Im Zwei- oder Dreistundentakt hatten damals die Regierungsstellen quartier- und städteweise den Strom abgedreht. Das Brot im Ofen, das Ei in der Pfanne blieben kalt. Viele Menschen saßen aber auch frierend in der Wohnung — das unsinnige Heizen mit Strom ist in Bulgarien billig und deshalb populär.

An diesem Mittag stellt sich der Stromausfall als Fehlalarm heraus. Nach fünf Minuten gehen die Lichter wieder an. Doch die Furcht bleibt. Erst Ende Oktober erloschen in Sofia das letzte Mal unplanmäßig die Lichter. Strom- und Kohlelieferungen aus der Sowjetunion waren ausgeblieben, und die Behörden hatten, um Kohle für die noch kälteren Wintermonate zu sparen, einfach den Saft abgedreht. Der Vizechef des Staatlichen Energiekomitees, Yordan Mirazchiyski („Ich schalte den Strom aus.“) entschuldigend: „Wir können ohne den Import den Strombedarf nicht befriedigen.“ Bulgarien verfügt nach seinen Angaben über etwa 11.500 Megawatt (MW) Kraftwerkskapazität, davon 5.700 MW Kohle und etwa 2.750 MW Atomstrom in Kosloduj.

Eigentlich mehr als genug: In den vergangenen Jahren lag der maximale Stromverbrauch bei 8.100 MW, Tendenz stark fallend. Die im Land verteilten Kohlekraftwerke können mit Steinkohle aus der Ukraine oder energiearmer bulgarischer Lignitkohle befeuert werden. Werden sie aber nicht. In den kritischen Tagen Ende Oktober waren nur etwa die Hälfte der 5.700-MW- Kohlekraftwerke in Betrieb. 1.000 MW der alten und verschlissenen Stationen lagen still, aber fast 2.000 MW konnten nach Regierungsangaben aus Mangel an Kohle nicht befeuert werden.

Im AKW Kosloduj standen die Turbinen im Oktober nicht still. Drei der insgesamt sechs Atommeiler lieferten rund 1.600 MW Strom. Der Atomstrom wäre aber leicht zu ersetzen gewesen — wenn man nur Kohle hätte verfeuern können. Selbst Atomkraftanhänger Mirazchiyski räumt ein: „Was uns begrenzt, ist die Kohle.“

Den deutschen Gästen, unter ihnen der grüne Bundestagsabgeordnete Klaus-Dieter Feige, berichtet er von dem Brief, den der bulgarische Ex-Vizepräsident Alexander Tomov an Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) geschickt habe. Ganz oben auf der bulgarischen Wunschliste habe der Import von Kohle gestanden. Daneben sei es um die Ersatzteile für Greifswald und Ersatzteile für die maroden bulgarischen Kohlekraftwerke gegangen.

Die umstrittenen Atom-Ersatzteile aus Greifswald seien im Gegensatz zur Kohle „nicht unbedingt erforderlich“, so Mirazchiyski — eine Einschätzung, die er mit Kiril Nikolov, dem Direktor des Atomkraftwerks, teilt. Sein Beweis: Das AKW ist in Betrieb, obwohl die „Ersatzteillieferung überhaupt noch nicht begonnen hat“, so Nikolov. Die beiden Energiefunktionäre können Erhellendes zum Zustandekommen des Ersatzteildeals beitragen. Der Vorschlag sei von deutschen Firmen gekommen, so Mirazchiyski. „Gleich nach der Stillegung von Greifswald haben wir mit den Kollegen dort diese Frage erörtert“, ergänzt Nikolov die Informationen. Die Teile — der Umfang der angekündigten Lieferung ist mittlerweile auf acht Millionen Mark reduziert — seien immer kostenlos angeboten worden. Die Sicherheit im AKW hängt auch nach Ansicht unabhängiger Experten nicht von diesen Ersatzteilen ab.

Daß die Energiesituation in Bulgarien in den kommenden Monaten noch prekärer wird, ist allen Verantwortlichen klar. Die Regierungsstellen in Sofia übertreiben allerdings den Strombedarf und damit auch die kommenden Stromlöcher noch. Während sie von einem Spitzenbedarf von 7.700 MW ausgehen, gehen selbst die mit einem EG-Gutachten beauftragten westlichen Energiekonzerne nur von maximal 7.300 MW aus. Hintergrund: Die Regierung will im Winter mindestens vier der sechs Kosloduj-AKWs mit über 2.700 MW betreiben. Selbst die ältesten beiden Reaktoren sollen nach geringfügigen Verbesserungen noch wieder für bis zu drei Jahre ans Netz. Plamen Tzvetanov von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften klagt: „Der Stromterror ist die beste Propaganda für die AKWs von Kosloduj.“

Hinter den Kulissen wird zugleich heftig um die Energiezukunft Bulgariens gerungen. Tzvetanov und Ivan Uzunov, Atomphysiker und Atomkraftkritiker an der Universität Sofia, argumentieren hier vehement für den Bau neuer moderner Gaskraftwerke. Eines könnte am Standort des einst geplanten zweiten Atomkraftwerks Belene in wenigen Monaten hochgezogen werden, so Tzvetanov. Doch im Augenblick, so Uzunovs Sorge, habe die Atomenergie in den bulgarischen Bürokratien sogar mehr Oberwasser als in den letzten Jahren des kommunistischen Regimes. Statt vor allem über Einsparungen nachzudenken, beobachtet Tzvetanow sogar Bestrebungen, Bulgarien zur Atomstrominsel auf dem Balkan zu machen. Ausländische Firmen und heimische Bürokraten bereiteten entgegen aller Vernunft „eine neue, diesmal atomare Kolonialisierung“ vor.