Verkehrte Welt in Fürstenwalde

Nicht jede ostdeutsche Stadt ist Hoyerswerda. In Fürstenwalde, 60 Kilometer von Berlin entfernt, ist Fremdenhaß ein Fremdwort und praktische Solidarität an der Tagesordnung. Eine Ausnahme?  ■ VON THORSTEN SCHMITZ

Fürstenwalde an der Spree will nicht Hünxe oder Hoyerswerda sein. 24 Stunden nach dem ersten Geburtstag des vereinten Deutschlands kursierte in der ostbrandenburgischen Kreisstadt das Gerücht, Rechtsradikale aus umliegenden Dörfern und Kleinstädten wollten das Übergangswohnheim in der Friedhofstraße stürmen.

Innerhalb kürzester Zeit waren Polizei, Kirchen und der Bevölkerungsschutz von Fürstenwalde alarmiert. Kurz nach der Abschlußveranstaltung zur „Woche des ausländischen Mitbürgers“ auf dem Marktplatz, noch während Aufräumtrupps saubermachten, sammelten sich dort 15 rechtsradikale Jugendliche und stimmten sich mit reichlich Bier auf den bevorstehenden Angriff ein. Sie schrien Hetzparolen, forderten ein Deutschland ausschließlich für Deutsche. Ungehindert zogen sie zunächst in Richtung Friedhof, wo seit Herbst letzten Jahres 390 Asylsuchende aus 28 Nationen, darunter auch 50 Aussiedler aus Rumänien und der Sowjetunion, in fünf mausgrauen Wohnblocks leben. Die Taktik der Polizei ging auf. Auf der einzigen Brücke, die Fürstenwalde- Nord mit Fürstenwalde-Süd verbindet, stoppten die Beamten den Mob. Auch die kirchlichen Organisationen, allen voran Caritas und Diakonisches Werk, reagierten prompt: Per Telefonkette wurden 30 Mitarbeiter mobilisiert, um die aufgebrachten Bewohner zu beruhigen.

Wanda Nikulka, Ausländer- und Gleichstellungsbeauftragte für 34.000 Fürstenwalder, war an diesem 5.Oktober 1991 auch in dem Wohnheim, „um zu helfen“. Es war schwierig. Seit in Hoyerswerda das Tabu gebrochen wurde, fürchten die Flüchtlinge rechtsextreme Jugendliche und brave Bürger, die ihren Haß austoben. „Die haben zuerst geglaubt, die Polizei wird mit den Jugendlichen nicht fertig.“

Sie wurde es. Von der Brücke bis zum Bahnhof eskortierten die Beamten die betrunkenen Jugendlichen und setzten sie in den Zug. Wanda Nikulka, brave Bürger, Jugendliche und selbst Oberbürgermeister Manfred Reim (FDP) wachten bis zum nächsten Morgen im „Heim“, wie es von allen genannt wird. Ohne darum gebeten worden zu sein, patroullierten bis frühmorgens die Mitglieder des Fürstenwalder Hundevereins mit ihren Schäferhunden um die Plattenbauten. Sie wollten aufpassen, daß niemand über den einen Meter niedrigen Zaun klettert, der das Heim umschließt.

Wanda Nikulka stimmt das optimistisch. Seit 1972 lebt die aus Polen kommende Ausländerbeauftragte in der Kleinstadt, die zwischen Berlin und Frankfurt/Oder liegt. Seit genau einem Jahr verfolgt sie ihr Ziel mit einer Energie und Ausdauer, über die sie sich selbst manchmal wundert. Damit es erst gar nicht zu einem Pogrom gegen die Ausländer in Fürstenwalde kommt, geht Frau Nikulka in Schulen, diskutiert mit Lehrern und Jugendlichen über die Gründe, warum die Libanesen und Türken hier Schutz und eine Zukunft suchen. Künftig soll im Kreistag ein Ausländerbeauftragter arbeiten, der dann für 103.000 Einwohner zuständig ist. Verstärkt werden soll auch die Arbeit mit den Jugendlichen, die zu den Verlierern der Vereinigung zählen und die besonders anfällig sind für rechtsradikale Tendenzen.

Lee Phen (alle Namen der Flüchtlinge von der Redaktion geändert), 29 Jahre alt, kommt aus der nordvietnamesischen Hafenstadt Hai Fong. Zusammen mit einem anderen Vietnamesen wohnt er seit Januar in einem Zwei-Bett-Zimmer im Heim. Sie haben sich eingerichtet, so gut es eben geht mit 405 Mark im Monat: Fernseher, Videogerät, Poster von Popstars und Bilder von schönen Frauen und Männern aus einem Versandhauskatalog. Zwischen den akkurat gemachten Betten ein zerschlissenes rotes Sofa.

Leben wie alle Menschen mit Menschenrechten

Seit elf Monaten wohnt Lee in Fürstenwalde. Jeden Tag muß er beim Pförtnerhaus vorbei, wo am Fenster die Posteingänge kleben. Vor vier Wochen entdeckte er dort seinen Namen, ihm schwante nichts Gutes: Der Brief kam vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge aus Zirndorf. Darin stand, er habe kein Recht, in Deutschland zu bleiben. In der fünfseitigen Begründung, die Lee nicht verstehen kann, heißt es, er sei kein politisch Verfolgter im Sinne des Grundgesetz-Artikels 16. Mit einem Rechtsanwalt, den ihm die Caritas vermittelte, hat er gegen diesen Beschluß Widerspruch eingelegt. Der Ostberliner Anwalt glaubt zwar, daß Lee zumindest geduldet werde. Aber Lee hat Angst, wieder nach Hai Fong zu gehen. „Was soll ich dort? Ich möchte leben, wie alle Menschen leben und Menschenrechte haben.“

Bis 1986 arbeitete Lee in Hai Fong in einer Fabrik für Konservendosen. Eines Tages sah er einen Aushang am schwarzen Brett: „Möchtest Du in der Tschechoslowakei arbeiten, lernen und Geld verdienen?“ Lee hatte den staatlich verordneten Steinzeitkommunismus satt, er verließ seine Heimat. Knapp fünf Jahre lebte er in einem Industriekaff in der Slowakei und leimte in einer Holzfabrik Tische und Stühle zusammen. Das, was Lee sich erhofft hatte, fand er in Zarnovica nicht vor: „Ich möchte unter freiem Himmel leben.“ Nach einem bilateralen Abkommen mußten die Vietnamesen nach fünf Jahren zurück. Lee aber entschied sich für „Westdeutschland“: Er floh. Seit elf Monaten wacht er jeden Morgen auf mit immer dem gleichen Gedanken: Werde ich hier bleiben können?

Lee versteht sehr wohl, daß Menschen wie er von Deutschen gehaßt werden, weil sie aus einem anderen Land kommen. Lee ist Pragmatiker: Wenn er nach Westberlin fährt, dann immer nur tagsüber und mindestens zu zweit. In Discos geht er gar nicht. „Ich habe etwas Angst vor den Punkies und den Skinheads.“ In Fürstenwalde aber fühlt er sich sicher: „Die Regierung schützt Asylanten, so wie sie die Deutschen beschützt.“ Lee hat drei Wünsche: die Anerkennung, ein Auto und die Abschaffung aller Grenzen dieser Welt: „Liebe ist ja auch möglich ohne Grenzen.“

Die Stimmung in den drei Flüchtlingshäusern ist gedrückt, fast jeden Tag erhält einer der Bewohner einen Ablehnungsbescheid aus Zirndorf. Auch Eslavka Doniva, 33, aus Sofia hat nur wenig Hoffnung auf eine positive Nachricht. Schließlich habe sich Bulgarien „gewendet“. Ihre Geschichte zeigt, wie sinnlos das Bemühen der Zirndorfer Beamten sein kann, nach politischen Umständen im Heimatland zu forschen.

„Wie kann ich in Bulgarien leben, wenn die alten Genossen und Funktionäre noch immer auf ihren Sesseln sitzen?“ fragt Eslavka. „Die Kommunisten haben sich einfach in Sozialisten umgetauft.“ In Bulgarien hat Eslavka als Skilehrerin und als Stewardeß in einem Schlafwagenabteil gearbeitet. Mit dem Geld versorgte sie ihren kranken Vater. Die Mutter lebt seit über zehn Jahren in Westdeutschland, Eslavka und ihr Vater wurden deshalb als „Faschisten“ bezeichnet. Die letzten acht Jahre wurde Eslavka terrorisiert. Ihr Chef hatte sie jahrelang sexuell belästigt. Jeden Tag bedrängte er sie; selbst nachts klingelte er bei ihr zu Hause: „Ich bin gekommen, um mit dir zu schlafen.“ Er drohte ihr, sie zu entlassen — was er dann, im Oktober 1985, auch tat. Im Parteibüro des Schlafwagen-Unternehmens beschied ihr der kommunistische Sekretär: „Tut mir leid, aber wenn wir etwas gegen ihren Chef unternehmen, kriegen wir Probleme.“ Eslavka mußte ihre Wohnung aufgeben, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Um nicht zu verhungern, ging sie wieder als Stewardeß arbeiten. Es folgten „vier Jahre Terror, die ich nie vergessen werde“.

„Die sind toleranter als anderswo“

Eslavkas Traum: Skilehrerin in Süddeutschland. Bis dahin, sagt sie, sei es wohl noch ein weiter Weg. Es wäre für sie ein Alptraum, wieder nach Sofia zu müssen: „Ich habe keine Wohnung mehr, keine Möbel, keine Arbeit und keine Freunde.“ Ende des Monats beginnt Eslavka als Pflegeschwester im Krankenhaus Fürstenwalde zu arbeiten. Sie hofft, daß das ihr hilft, auch dann zu bleiben, wenn sie abgelehnt werden sollte. Daß sie noch nie angepöbelt wurde in Fürstenwalde, hält sie den Fürstenwaldern zugute: „Die sind toleranter als anderswo.“ Warum? Das weiß sie nicht.

Vielleicht liegt es daran, daß in der zwischen 1252 und 1258 gegründeten Stadt zu SED-Zeiten 1.000 Kubaner, Vietnamesen und Polen gelebt haben. Sie arbeiteten entweder im Reifenkombinat „Pneumant“ oder im Tankanlagenbau „Ottomar Geschke“. Hinzu kommen noch mehrere Tausend Sowjetsoldaten, die bis 1994 abziehen und in deren Häusern sozialer Wohnungsbau realisiert werden soll. Die Gastarbeiter lebten nicht auf grünen Wiesen, sondern mitten unter den Fürstenwaldern: „Sehr viele Freundschaften sind entstanden“, erinnert sich Wanda Nikulka. Als die ersten Asylsuchenden ins Heim einzogen, „hat sich keiner in Fürstenwalde darüber aufgeregt“.

Hannelore Unger vom Diakonischen Werk, die seit dem 1. November das „Wohnübergangsheim“ leitet, bestätigt: „Viele Fürstenwalder sind interessiert am Heim, manche laden die Flüchtlinge auf Feste ein, andere wollen sogar Patenschaften übernehmen.“ Die Kleinstadt ist ihrer Meinung nach „kein Paradies“, es gebe auch „Stimmen gegen Ausländer“. Gerade jetzt, wo die Belegschaft der „Pneumant“ von 5.000 auf Null reduziert wird und die Arbeitslosenquote ohnehin schon bei zehn Prozent liegt. Diese Stimmen aber seien in der Minderheit, „und Skinheads gibt's hier schon gar nicht“. Das Diakonische Werk versucht, die Ungewißheit für die Bewohner erträglicher zu machen. Dreißig von ihnen meldeten sich letzte Woche, um für vier Mark die Stunde den Innenhof zu entrümpeln, und wer will, kann dreimal in der Woche kostenlos den von der Caritas organisierten Deutschunterricht besuchen.

Im Büro von Hannelore Unger hängt ein Plakat an der Wand: „Asylrecht ist Menschenrecht“. Ununterbrochen stürmt jemand herein, um mit ihr etwas zu besprechen oder zu telefonieren. Frau Unger entschuldigt sich: „Wir sind alle neu.“ Die burschikose Heimleiterin favorisiert einen „neuen Stil“. Seit dem 1.November betreuen vier Sozialarbeiterinnen und ein Sozialarbeiter die Flüchtlinge: „Die stehen unter Druck und brauchen Menschen, bei denen sie etwas loswerden können.“

Sozialarbeiter braucht Farouqh Al-Rafieh, 38, nicht mehr. Farouqh kommt aus dem Irak, ist seit August letzten Jahres in Deutschland und vor kurzem anerkannt worden als politisch Verfolgter. Was ihm jetzt noch fehlt: eine Wohnung, möglichst in Westberlin, weil er dort Freunde hat, und einen Job, in dem er als Doktor der Physik arbeiten kann. Zuallererst aber gilt es, Hürden zu überwinden. Um Arbeitslosengeld zu erhalten, braucht das Amt in Fürstenwalde Dokumente, die bestätigen, wie lange und wo Farouqh bereits gearbeitet hat. Als Verfolgter, der von Bagdad aus zu Fuß und per Bahn in den Nord-Irak geflüchtet ist, dann in Todesangst über die Grenze in die Türkei, von dort nach Prag und schließlich nach Westberlin — als solcher denkt man zuletzt an Dokumente. Farouqh wird warten müssen auf das Geld, das ihm zusteht.

In Bagdad arbeitete er als Physiklehrer, bis jeder wußte, daß er Saddam Husseins Regime nie akzeptiert hat. Farouqh weiß nicht, wie es seinen Eltern geht. Nach Bagdad will er nicht telefonieren. Er befürchtet, daß die Leitungen abgehört werden. Einmal hat er im Sammellager Eisenhüttenstadt einen Iraker getroffen, der ihm von Bagdad berichtete: „Die Menschen verkaufen ihren Körper, und ein Kilo Zucker kostet inzwischen 21 Dollar“, sagt Farouqh. Sein Traum: „To go back to my family.“ Daß der im Moment unerreichbar ist, weiß er. Und solange er weder Wohnung noch Arbeit hat, bleibt er in Fürstenwalde und vertreibt sich die Zeit mit Familie Al-Aziz aus dem Südlibanon, die im gleichen Stock wohnt. Die Al-Aziz‘ — Vater, Mutter und fünf Kinder zwischen acht und 18 — sind für Farouqh zur Ersatzfamilie geworden. Morgens, mittags und abends ißt er mit ihnen, anschließend plaudern sie oder schauen deutsche Videofilme an. Auch an diesem Freitagabend. Familie Al-Aziz, Farouqh und zwei libanesische Freunde sitzen vor dem Fernseher und lachen sich jedesmal schief, wenn im Film Torten auf Gesichter klatschen. Frau Al-Aziz raucht Wasserpfeife, ihr Mann fläzt sich auf ihrem Schoß. Farouqh erklärt: „Wir verstehen zwar nichts, aber wir sehen die Optik.“

Noch am frühen Abend hatte es heftige Diskussionen gegeben. Der jüngste Sohn der Al-Aziz', Rabie, ist krank. Als der Heim-Doktor ihn untersuchen sollte, verweigerte der die Behandlung, weil ihm der Dolmetscher nicht paßte, den Familie Al- Aziz mitgebracht hatte. Zwar gibt es einen arabischen Dolmetscher im Heim, aber der wird gemieden. Die Heimbewohner werfen ihm vor, er tratsche die Untersuchungsergebnisse ihrer Frauen weiter. „Unmöglich!“ sagt Farouqh. „Durch den Dolmetscher weiß jeder von den Krankheiten unserer Frauen.“ Rabies Vater will jetzt auf eigene Faust einen Arzt konsultieren.

Trotz der zermürbenden Warterei haben viele Flüchtlinge ihren Willen nicht ganz verloren. Im Mai organisierten sie einen „Hungermarsch“ nach Potsdam. Sie protestierten gegen die Verpflegung, vor allem die Moslems: Aus religiösen Gründen dürfen sie kein Schweinefleisch essen — und es gab fast täglich Schnitzel. Mit ihrer Protestaktion hatten sie Erfolg. Seitdem erhält monatlich jedes Familienoberhaupt 405, die Frauen 364 Mark, und für die Kinder gibt es Geld je nach Alter.

Den Sinn für Menschlichkeit verloren

Mojib Ahmad aus Bangladesch war auch beim Hungermarsch dabei. Der 30 Jahre alte Reisebüro-Angestellte aus der Hauptstadt Dacca wohnt seit Februar mit drei anderen Landsmännern in einem Zimmer. An den Wänden die Betten, in der Mitte ein Tisch, auf den Stühlen die Klamotten. Mojib war Mitglied einer demokratischen Partei, die noch zu Beginn des Jahres in der Illegalität arbeiten mußte. Als er „entdeckt“ wurde, flüchtete Mojib und tauchte unter. „Sie wußten, wo sie mich kriegen konnten.“ In Fürstenwalde fürchtet er sich zwar nicht vor den Deutschen, dennoch traut er sich nur noch zur Post und zum Markt: Vor drei Wochen wollte er einen Freund aus Westberlin vom Bahnhof abholen und wurde in Erkner, 40 Kilometer westlich von Fürstenwalde, von Skinheads zusammengeschlagen. Zwei Rippen und ein Finger waren gebrochen, auch am Kopf war er verletzt. Mojib hat daraus die Konsequenzen gezogen. Sollte sich die Situation in Bangladesch ändern, will er zurück nach Dacca. „Ich sehe hier für mich keine Zukunft.“ Letzte Woche erfuhr Mojib aus Dacca, daß die Polizei ihn sucht, weil er jemanden ermordet haben soll: „Die wollen nicht, daß ich zurückkomme.“

Die Hoffnung gibt er trotzdem nicht auf. Genausowenig die Hoffnung, daß sich die Situation für Ausländer in Deutschland verbessern wird: „Ich verurteile die Ostdeutschen nicht, die sind frustriert. Sie wissen nicht mehr, was gut ist und was schlecht. Sie haben den Sinn für Menschlichkeit verloren. Es ist eine falsche Politik, Flüchtlinge nach Ostdeutschland zu schicken. Die Politiker müßten Basisarbeit betreiben. Sie müßten im Fernsehen und im Radio Programme senden nach dem Motto: ,Das sind die Ausländer: Sie stehlen euch nicht die Arbeit, nicht die Wohnung. Andere Länder haben die gleiche Wirtschaftskrise — aber keine Ausländer, die gehaßt werden.‘“