Zivile Gleichgültigkeit

Warum Europa den Krieg in Kroatien nicht begreift  ■ Von Slobodan Snajder

In Briefen, die ich dieser Tage von außerhalb erhalte, lese ich fast regelmäßig Beschreibungen des Horrors hierzulande, unseres Horrors, wie ihn meine ausländischen Freunde auf ihren Bildschirmen sehen. Und als glaubten sie nicht restlos an die Realität dieser entsetzlichen Bilder, lassen sie die Möglichkeit offen, daß es sich vielleicht doch um Computerspiele handele. Dann schildern sie ihre Hilflosigkeit, ihre Sprachlosigkeit angesichts dieser Bilder, was mir alles sehr vertraut ist. Nur wir können niemanden fragen, ob es sich nicht vielleicht doch um ein derart raffiniertes Spiel handelt, daß es fast in allem wie Wirklichkeit aussieht, so gespenstisch diese Wirklichkeit auch sei. Man könnte heute, am Vorabend des so oft beschworenen Jahres 1992, auch an der sprichwörtlichen Schärfe des europäischen Verstandes zweifeln, der vor dem, was sich am Rand des Kontinents, aber immer noch in Europa ereignet, ebenso hilflos erscheint. Ohne seine analytischen Fähigkeiten zu bestreiten, die übrigens die Basis seiner Schläue sind, will ich versuchen, kurz zu skizzieren, warum ich glaube, daß er in unserem Fall einigermaßen chancenlos ist und daß unser größtes Unglück darin besteht, das zu spät begriffen zu haben. Für gegenseitige Belehrungen ist jetzt freilich keine Zeit mehr: während Dörfer brennen, die Bevölkerung kroatischer Städte in feuchten Löchern haust und zwei Stunden bevor ich mit der Niederschrift dieser Zeilen begann ein sechsjähriges Mädchen von einer Bombe mit Kassettenkopf (laut internationaler Konvention verboten) zerrissen wurde. Das ist kein Computerspiel, sondern blutige Realität auf der Schwelle von Kohls und Mitterrands gemeinsamem Europäischen Haus. Die Tür wird sich gleich öffnen, die Gäste treffen schon ein, aber unter der Schwelle liegt eine Mine.

Warum begreift dieser geriebene alte Fuchs, der europäische Verstand, so schwer, was in Kroatien wirklich vor sich geht?

Hier also meine Vorstellung, wie der besorgte und wohlmeinende und zudem emanzipierte Europäer heute darüber denkt, was sich in Kroatien ereignet, und warum er hilflos und sprachlos vor diesen Ereignissen stehen muß. Warum es ihm schwerfällt, Partei zu ergreifen, wenn er sieht, daß zwei Seiten im Konflikt sind, und zwei zumindest, nicht wahr, sind nötig für einen Konflikt; und warum er schließlich, mit Recht angewidert, den Kopf abwendet und mit den Schultern zuckt.

Ist es deshalb, weil die Kroaten und die Serben etwas Einmaliges auf diesem Planeten wären? Der Europäer sieht hier den Konflikt zwischen zwei Nationalismen, ja Rassismen, wie er sie schon vergessen oder wenigstens wohlerzogen verdrängt hat (so als ob heute ein Farbiger ganz ruhig mit der Berliner U-Bahn fahren könnte, so als ob nicht kürzlich auf dem Wiener Zentralfriedhof jüdische Gräber von Neonazis geschändet worden wären). Der Europäer also sieht hier in Aktion, was er in seiner näheren Umgebung für einen Zwischenfall hält, mit dem die Demokratie leben muß. Die mörderische Grausamkeit des Konflikts auf dem Balkan gemahnt indes an ein vorzivilisatorisches Niveau, an steinzeitliche Streitigkeiten um Weidegebiete und Quellen. Aber da Freuds Psychoanalyse, in gemäßigter Dosierung, sicherlich zum Vademecum des Europäers gehört, so kennt er aus dem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur den Terminus Narzißmus der kleinen Differenzen, mit dem der Wiener Doktor schon vor fünfzig Jahren die Ursachen dieses furchtbaren gegenseitigen Hasses erklärt hat. Freuds Beispiel sind Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten, während Serben und Kroaten, noch unerwähnt, darauf warten, daß sie an die Reihe kommen.

Sowohl Kroaten als auch Serben sprechen von ihrer alten Kultur, sie benutzen dieselbe Formel, wonach jeder von ihnen den Okzident gegen das Vordringen der Türken verteidigt habe, beide Seiten berufen sich also auf historische Beweise, die vor einem imaginären europäischen Tribunal von ihrem jeweils besseren Europäertum zeugen sollen. Der Europäer jedoch, je nachdem wie und ob er überhaupt abstimmt, wird anhand dieser Beweisführung das Maß seiner Sympathie oder Abneigung festlegen, aber er wird trotzdem die Sprache dieser Argumentation als konservativ empfinden. In beiden Fällen. Er wird sogar denken, hier sind offenbar beide Seiten im Recht, weshalb disqualifizieren sie einander denn? Hat nicht schon der Kriegsjargon der Monarchie die Kroaten und die SerbenStammesbrüder genannt (obwohl er sie aufeinanderhetzte)?

Also eine hervorragende Gelegenheit für den europäischen Verstand, diesen durchtriebenen alten Fuchs, sein alt-neues Aufklärertum zu exerzieren. Kann denn die Tatsache der zufälligen Geburt in der heutigen Welt Anlaß zur Zerstörung alles dessen sein, was im Schoß eines anderen Volkes natürlich ebenso zufällig geboren wurde? Wir werden doch nicht wieder von Blut und Boden anfangen, in diesen NachZeiten, jenseits der geschichtlichen Zäsur?

Die Kroaten indes sagen, daß die Geschichte für sie erst beginnt und daß sie mit ihrem Staat beginnt. Die Serben entgegnen sofort, daß die Kroaten ihren Staat hatten, nämlich den von Hitlers Gnaden, der für die damals in Kroatien lebenden Serben das größte Trauma ihrer Geschichte darstellt. Allein dieses Streben nach einem Staat, diese fast krankhafte Fixierung auf einen Staat muß dem zivilisierten Europäer verdächtig erscheinen, arbeitet er doch gerade, wenn auch vorerst behutsam, an der Auflösung der eigenen Staaten. Tatsächlich scheint die gegenwärtige europäische Integration in Richtung, Rhythmus und Zielsetzung dem, was bei uns geschieht, diametral entgegengesetzt. Der moderne Europäer hat keinerlei Chance, diesen plötzlichen staatsbildenden Eifer zu verstehen, er wird ihn eher für ein Zeichen von Störung und Behinderung ansehen. Er nämlich hält den Staat für um so besser, je weniger er von ihm sieht.

Das sind zwei mögliche Momente, aber sicher die wichtigsten, die den Europäer objektiv am Verständnis für das hindern, was heute vornehmlich in Kroatien geschieht, morgen in Bosnien-Herzegowina und sich danach leider noch weiter ausbreiten wird, obwohl er natürlich, wohlerzogen, Mitleid mit den unschuldigen Opfern empfindet. Mit den Opfern wovon? Mit den Opfern der Illusionen, der ideologischen Verblendung, der Politik usw. Denn jetzt kommen wir zum Krieg bzw. zu einem Punkt in dieser Argumentation, wo Europa durch seine Unschlüssigkeit — bei allen objektiven Schwierigkeiten angesichts der kroatischen Sphinx — schwere Fehler macht.

Man kann nämlich den späten Nationalismus eines kleinen Volkes für verderblich und rückschrittlich halten, man kann seinen staatsbildenden Eifer altmodisch schelten, wenn man selbst die Vorteile eines zivilen Staates und alle anderen Vorteile genießt, die ihren Ursprung in einem bereits während des 19.Jahrhunderts im großen und ganzen abgeschlossenen nationalen Programm haben. Aber gerade weil er zivil denkt, kann der europäische Verstand objektiv nicht begreifen, was derzeit in Kroatien vor sich geht. Wir könnten mit Immanuel Kant sagen, daß ihm für ein solches Verständnis einfach die Kategorien a priori fehlen.

Ein Deutscher oder Österreicher mag sich einmal vorstellen, wie es wäre, wenn ihre vereinigten Armeen mit allen zur Verfügung stehenden Zerstörungswaffen den Freistaat Bayern angriffen. Darum handelt es sich in Kroatien, und damit Europa das begreift, müßte sich der europäische Verstand neben aller Spitzfindigkeit auch seiner Phantasie bedienen: Logik nützt hier nichts, denn es ist nirgends auf der Welt möglich, daß ein reguläres stehendes Heer die eigene Bevölkerung brutal angreift, um sich dann, wie durch einen Taschenspielertrick verwandelt, zum Beschützer nur eines Teils dieser Bevölkerung zu erklären. Kroatische Städte, Dörfer, Häfen, Krankenhäuser und Kirchen, ja Kulturdenkmäler von welthistorischer Bedeutung werden mit modernster Kriegstechnik zerstört; hier wird in großem Stil operiert, nach allen Regeln der Logistik, unter Beteiligung aller Waffengattungen, besonders der Luftwaffe und der Marine, über welche die kroatische Seite überhaupt nicht verfügt. Auf der anderen Seite steht der Widerstand im Zeichen der Verteidi

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gung, und was das Wichtigste ist, der Krieg wird nur auf kroatischem Territorium geführt. Als ich in den letzten Tagen die Erklärungen von Generälen hörte, die sich militärisch knapp, meist im Infinitiv ausdrücken, kam ich zu dem Schluß, daß ihre Äußerungen — sieht man einmal davon ab, daß die Grundprämissen absolut irrational sind — eine finstere Logik haben. Es ist die Logik eines provinziellen Mephisto, und ihr Hauptergebnis ist ein richtiger Krieg in diesem Augenblick auf unserem Planeten, einer der bösesten und zugleich seltsamsten Kriege. Nach einigen wesentlichen Merkmalen scheint es wirklich ein Bürgerkrieg zu sein, was auch die Hauptthese der Aggressoren ist: daß nämlich der soeben illegal proklamierte kroatische Staat sich im Krieg mit dem noch immer existierenden alten Staat befinde. Das stimmt nicht, denn Jugoslawien gbt es nicht mehr, und es kann nicht mehr zusammengekittet werden (was andererseits nicht bedeutet, daß man seine ganze bisherige Geschichte dämonisieren muß), den Krieg jedoch auf kroatischem Boden führt heute eine Maschinerie nach ihrereigenen Logik, deren Hauptziel die Selbsterhaltung ist: der staatliche Rahmen erscheint nicht mehr so wichtig. Dennoch ist es auch ein Bürgerkrieg, da er alle Bürger der sich bekämpfenden Seiten ergriffen hat, von den elitären Intellektuellen, den unsterblichen Akademiemitgliedern und zarten Poeten, diekriegerisches Denken produzieren, bis zu den Achtzehnjährigen in den Schützengräben, die außer diffusen Empfindungen von der Situation, in die sie geworfen wurden, nichts verstehen, und die leider nicht unsterblich sind. Bezüglich der Mittel indes, mit denen er geführt wird, und das gibt den Ausschlag, ist es ein richtiger Krieg zwischen zwei Staaten: nicht bloß zwischen Serbien und Kroatien, sondern auch zwischen der Armee und Kroatien, da die Armee so etwas wie ein Staat im Staate war. Der europäische Verstand kann also hundertmal logische Schwierigkeiten und emotionale Zweifel bezüglich der Schuldverteilung in diesem entsetzlichen Konflikt haben. Er kann auch weiterhin aufklärerisch erhaben bleiben über zwei Völker, die, bleiben wir bei Kant, aufgrund ihrer „selbstverschuldeten Unreife“ ein Libanon ins Herz Europas tragen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß die entfesselte Mordmaschinerie ein Volk für Ansprüche bestrafen will, die mancher in Europa für verspätet halten kann, aber nicht für an sich illegitim halten darf und sie deshalb in keiner Weise, in niemandes Namen verurteilen sollte. Im Gegenteil.

Dies ist ein Plädoyer für die internationale Anerkennung eines kroatisches Staates.

Ein Appell solcher Art scheint schon deshalb notwendig, weil diese Anerkennung heute weiter entfernt scheint als noch vor ein paar Monaten... „Es ist der Grundsatz, bei allen zweifelhaften Fällen, bei seiner ersten Meinung zu beharren und nicht eher zu weichen, bis eine klare Überzeugung dazu zwingt“, sagt der preußische Militärtheoretiker Karl von Clausewitz. Er bezieht sich nicht auf die Diplomatie, sondern beschreibt eine Kriegssituation. Und darum handelt es sich: um einen Krieg in Kroatien, nicht um ein Computerspiel, und um die Mittel, diesem Krieg ein Ende zu bereiten. Wenn ich Clausewitz zitiere, so nicht, um den Geist des Kriegs zu verherrlichen, sondern um mein Grauen vor den Spukbildern des Krieges auszudrücken. Aber im Krieg muß man schnell und klar denken, besonders, wenn man wie im Fall der Bilder aus Kroatien, die heute um die Welt gehen, dem Gesehenen nicht glauben möchte. Den eigenen Augen nicht zu trauen ist nämlich bequemer und in jedem Fall billiger. Der Krieg jedoch findet Wege, um überzeugend zu sein. Und das, was heute billiger erscheint, eine Politik des fait accompli zu betreiben, insgeheim dem Stärkeren zuzustimmen und öffentlich die Opfer zu beweinen, könnte schon morgen sehr teuer werden.

Zagreb, Ende Oktober 1991 Aus dem Kroatischen

von Basiljka Schedlich

Slobodan Snajder, geboren 1948 in Zagreb, studierte an der dortigen Universität Philosophie und Anglistik. Er verfaßte dramatische Texte, veröffentlichte fünf Bücher. Das Theater an der Ruhr, Mülheim, brachte vor ein paar Jahren die deutsche Erstaufführung seines Dramas Der kroatische Faust heraus, Regie Roberto Ciulli.