„Amerika wäre heute ein anderes Land“

28 Jahre nach der Ermordung John F. Kennedys treffen sich in Dallas vierhundert Konspirationstheoretiker, um den Mord endlich aufzuklären / Der 22. November 1963 als amerikanisches Trauma und Beginn des zynischen Zeitalters  ■ Aus Dallas Rolf Paasch

Am 22. November 1963 gegen 12.30 Uhr biegt die offene Limousine des amerikanischen Präsidenten von Dealeys Plaza in der Innenstadt von Dallas links in die Elm Street ein. Nur Sekunden später wird John F. Kennedy, der zusammen mit seiner Frau Jackie, dem texanischen Gouverneur John Connolly und zwei Sicherheitsbeamten in dem Wagen sitzt, von mehreren Kugeln getroffen in seinen Sitz zurückgeschleudert. Um 13 Uhr wird der 35. Präsident der Vereinigten Staaten im nahegelegenen Parkland Hospital für tot erklärt. 15 Minuten später nimmt die Polizei den 24jährigen Ex-Marinesoldaten Lee Harvey Oswald als vermeintlichen Täter fest. Nur zwei Tage darauf trifft auch Oswald im Keller des Polizeiquartiers von Dallas — und wieder vor den TV-Kameras — die tödliche Kugel eines Attentäters, des lokalen Nachtclubbesitzers Jack Ruby. Damit war das Attentat des Jahrhunderts, das damals die ganze Welt schockierte, zu einem scheinbar unauflösbaren Rätsel geworden.

Fast genau 28 Jahre später treffen sich Mitte November im Ballroom des „Hyatt Regency“-Hotels in Sichtweite des Tatortes rund 400 Interessierte, um der Frage nachzugehen, die viele seit dem 22. November 1963 nicht mehr losgelassen hat: „Who shot JFK?“ Oder wer hat Amerikas Traum zerstört?

Denn was kam nach Kennedys Ermordung. „Der Vietnamkrieg, Watergate, die Iran-Contra-Affäre und jetzt die Kandidatur des Ex-Nazis David Duke für das Gouverneursamt in Louisiana“, zählt der Eingangsredner Dr. Cyril Wecht die sich anschließenden Sündenfälle der amerikanischen Politik auf. Der angesehene Anwalt und forensische Mediziner war der erste, der 1971 die Autopsie- und Röntgenaufnahmen Kennedys sehen durfte und seitdem die Schlußfolgerungen der offiziellen Untersuchungskommission über den Tathergang anzweifelt. Den 26bändigen Bericht der sogenannten „Warren Commission“, demzufolge Kennedy von einem ohne Hintermänner agierenden Lee Harvey Oswald mit drei Schüssen ermordet worden ist, halten Wecht — und mit ihm alle Symposiumsteilnehmer — für „fiktiven Schwachsinn“. Bis heute haben sie in dieser Einschätzung eine große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung hinter sich.

Doch der Theorien über den wirklichen Hergang und die Hintergründe des Attentats sind so viele wie Teilnehmer des Symposiums. Castro, der KGB, französische Söldner, das FBI, Lyndon B. Johnson, den CIA oder FBI-Chef Edgar Hoover, sie alle hätten für die Ermordung des jungen und so beliebten Präsidenten ihre Gründe gehabt. Mark Lane, Autor des Standardwerkes Rush to Judgement behauptet in seinem neuesten Buch Plausible Denial, endgültig den CIA des Mordes an Kennedy überführt zu haben. Wieder andere wie der Amateurhistoriker John Judge, der an einem kleinen Bücherstand seine gesammelten Konspirationstheorien vertreibt, hält Lane und die anderen angesehenen Akademiker auf dem Symposium eher für CIA-Agenten als für seriöse Attentats-Experten. Die Castro- und KGB-Theorien seien eine gezielte Desinformationskampagne, sagt Judge, der seinen Zynismus über die US-Politik auf den Cocktailparties seiner beiden im Pentagon beschäftigten Eltern gelernt hat. Für ihn ist das gesamte Nachkriegsamerika eine einzige große Konspiration, beginnend mit dem Import von Reinhard Gehlens Nazi-Spionen über den Kennedy- Mord bis hin zur angeblichen „October Surprise“ der Reagan-Administration von 1980.

So wird denn im Ballroom des Hyatt-Hotels zwei Tage lang heftig gestritten und spekuliert, sei es über die „Ein-Projektil-Theorie“, die Rolle der Mafia oder den im Dezember in die Kinos kommenden Kennedy-Film von Regisseur Oliver Stone (Platoon, 4. Juli, Doors). Das Hollywood-Werk über die Ungereimtheiten in allen offiziellen Attentats-Erklärungen wird eine größere Wirkung haben als all die 600 Bücher, Dutzende von TV-Dokumentationen, Miniserien und Ausstellungen, welche die Attentats-Industrie bisher hervorgebracht hat. Ob die Wirkung des vom Medien-Establishment bereits vor seiner Premiere heftig attackierten Filmes ihrem Anliegen, der Aufklärung, dient oder nicht, darüber stritten sich in Dallas noch die Gelehrten. Die einen fürchten, daß die Leute danach nur noch der Interpretation des Oliver Stone glauben. Die anderen freuen sich schon auf die neue Aufmerksamkeit, die ihrem Thema in den nächsten Monaten gewidmet werden wird.

Oliver Stone war 17 Jahre alt, als die Welt nach dem Attentat auf Kennedy für ihn stehenzubleiben schien. „Es schockte mich, daß ein so junger und gutaussehender Präsident einfach so abgeschossen werden konnte“, faßt der Starregisseur seine und die Reaktion von Millionen von Amerikanern zusammen. Es gibt kaum einen US-Bürger und schon gar keinen der Teilnehmer des JFK- Symposiums, der sich nicht daran erinnern könnte, wo er von den Schüssen auf Kennedy hörte. „Ich war damals 11 Jahre, und Oswalds Mutter lebte gleich bei uns um die Ecke“, erklärt Joe Patosky, warum er von der Kennedy-Story so besessen ist, obwohl er JFK im nachhinein nicht einmal für einen besonders guten Präsidenten hält. Aber damals schienen den USA unter dem auch im Ausland ungeheuer populären Kennedy die Welt offenzustehen. Da war seine hübsche Frau, die netten Kinder und jener grenzenlose Optimismus, der die USA zum Mond aufbrechen ließen. Wie die Abenteuer in Vietnam unter Johnson und Nixon oder im Weltraum mit der Raumfähre Challenger ausgehen würden, konnte damals noch niemand ahnen. Heute steht der liberale John F. Kennedy für das, was aus Amerika hätte werden können; die tragischen Schüsse im damals reaktionären Dallas für das, was nicht sein sollte.

Schon mit der mehr verdeckenden als erhellenden Untersuchung des Tathergangs begann der Anfang vom Ende jenes liberalen und integrierten Amerikas, das für kurze Zeit möglich schien. „Mit JFK, Martin Luther King oder vielleicht Bruder Robert Kennedy im Weißen Haus wäre Amerika heute ein ganz anderes Land“, so einer der Symposiumsteilnehmer. Der Mord an Kennedy sei nicht nur der Beginn der TV-Ära gewesen, erklärt Joe Nick Patosky die historische Bedeutung des Ereignisses. „Mit dem Attentat beginnt auch das zynische Zeitalter Amerikas.“ Zum ersten Mal zweifelten die US- Bürger mit dem Warren-Report auch die Erklärungen ihrer Führer an.

Bisher allerdings haben die verschiedenen Konspirationstheorien keine größere Überzeugungskraft als der in der Tat zweifelhafte Untersuchungsbericht. Was nach diesem 1. Symposium über das Kennedy-Attentat bleibt, sind Dutzende spekulativer Erklärungsversuche ohne die seit 28 Jahren fehlende „smoking gun“. Der Taxifahrer vor dem Hyatt Regency, der am 22. November wieder die Jahrestags-Touristen über Dealey Plaza chauffieren und ihnen das Fenster im 6. Stock des ehemaligen Texas Schoolbook Depository zeigen wird, glaubt unterdessen an eine Version des Kennedy-Mordes, wie sie weder in dem offiziellen Untersuchungsbericht noch auf dem Attentats-Symposium zu finden war. Wenn es richtig sei, daß der Großteil aller Morde wegen Geld oder Frauen ausgeführt würden, sagt er, dann sei die Sache doch klar: „Wer war denn einer der reichsten Männer der Welt und hat hinterher Jackie gekriegt?“