Eine zerstrittene Seilschaft vor dem EG-Gipfel

Kommissionspräsident Delors wütend über niederländischen Vertragsentwurf/ London lehnt föderalistische Zielsetzung ab/ Paris und Bonn erwägen politische Union ohne britische Zustimmung  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Wie eine eingespielte Seilschaft benehmen sich die EG-Mitgliedsländer wahrlich nicht. Kurz vor dem Gipfeltreffen am 8. und 9. Dezember in Maastricht, auf dem feierlich die politische Union besiegelt werden soll, kracht es an allen Ecken und Enden. Die Zukunft der Gemeinschaft stehe auf dem Spiel, drohte EG-Visionär Jacques Delors. Denn der holländische Vertragsentwurf für ein politisch geeintes Europa, so der Präsident der EG-Kommission vor den Europaparlamentariern am Mittwoch in Straßburg, sei das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben wurde. Mit ähnlich harschen Worten mischte sich auch der belgische Außenminister Mark Eyskens in die Debatte über die angestrebte politische Union ein, die zusammen mit einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen werden soll. Adressat der Kritik ist neben der holländischen Regierung vor allem der britische Premierminister, der sich bislang am vehementesten gegen ein engeres Zusammenrücken der Mitgliedsstaaten wehrt.

Um John Major noch in letzter Minute auf seinen Kompromißvorschlag einzuschwören, reiste gestern der holländische Premierminister und EG-Ratsvorsitzende Ruud Lubbers nach London. Major, dem im Frühjahr seine erste Wahl ins Haus steht und der von den EG-Gegnern in seiner Partei unter Druck gesetzt wird, hatte jedoch schon vorher bei einer Unterhausdebatte verkündet, daß der holländische Vorschlag in der vorliegenden Form nicht akzeptabel sei. Weder werde seine Regierung einer föderalistischen Zielsetzung der Gemeinschaft noch einer gemeinsamen europäischen Währung zustimmen. Gleichzeitig ließ er seinen Außenminister jedoch erneut vorsichtigen Optimismus verbreiten. Die Chancen für ein Abkommen in Maastricht, so Douglas Hurd, stünden so schlecht nicht.

Um in diesem Polit-Poker von den Briten nicht völlig an die Wand gespielt zu werden, läßt man in den europhilsten Hauptstädten wie Paris, Bonn und Brüssel inzwischen die Drohung kursieren, die politische Union im Notfall auch ohne Großbritannien durchziehen zu wollen. Ob es sich dabei um einen Bluff handelt oder ob Bundeskanzler Kohl und der französische Staatspräsident Fran¿ois Mitterrand in Maastricht wirklich zu diesem letzten Mittel greifen würden, wird sich in zweieinhalb Wochen erweisen. Jedenfalls erklärte ein belgischer Diplomat Anfang der Woche, es sei durchaus möglich, neben den für Maastricht geplanten Ergänzungsabkommen zu den Römischen Gründungsverträgen der EG einen separaten Vertrag über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schließen, an dem sich nur die interessierten Mitgliedsstaaten beteiligen.

Unterstützung für einen solchen Schritt würden Kohl und Mitterrand sicherlich von den Europaparlamentariern erhalten. Ihr Präsident Baron Crespo klagte diese Woche erneut größere Mitbestimmungsrechte bei dem EG-Gesetzgebungsprozeß ein. Bislang hatte das Europaparlament meist nur Beratungsrechte, Entscheidungen trifft — meist einstimmig — der EG-allmächtige Ministerrat.

Weil dies dazu führt, daß Länder wie Großbritannien Beschlüsse beispielsweise in der Umweltpolitik blockieren können, fordern Reformer wie Kohl und Mitterrand für viele Bereiche Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat — und damit verbunden ein Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments.