Pommes allein machen noch keinen Staat

■ In Belgien ist die Konfrontation zwischen Wallonen und Flamen wieder aufgebrochen/ Der rechtsradikale „Vlaams Blok“ könnte zum Zünglein an der Waage werden

„Das einzige, das Wallonen und Flamen gemeinsam haben, ist ihre Liebe zu Pommes Frites“, sagt ein flämischer Separatist. Die Stimmung ist geladen, so viele Rassismen und Ausschlüsse gegeneinander gibt es in Belgien. Die eine Seite sagt: „Die Flamen sind harte Arbeiter, ein nördliches, germanisches Volk. Die Franzosen sind vom Temperament her mediterran und von Natur aus Kulturimperialisten.“ Die andere Seite meint: „Die Flamen haben diesen Staat so arrangiert, daß sie alle Schlüssel zur Macht in ihren Händen halten.“ Beide sagen: „Wir haben die Schnauze voll.“

Über diesen Krieg der Worte ist der Platz der Märtyrer im Zentrum von Brüssel langsam heruntergekommen. Die Märtyrer waren die belgischen Revolutionäre, die 1830 den Aufstand gegen die Holländer anführten. Das Denkmal ist eines der ganz wenigen, die die Schaffung des belgischen Staates feiern. Die Revolution war eine Angelegenheit, die quer durch alle Lager verlief, mit Wallonen aus Liège, aber auch mit französischsprachigen flämischen Landaristokraten.

Heute ist das Denkmal, in dem sich angeblich die Gebeine der Märtyrer befinden, die in der viertägigen Schlacht um Brüssel fielen, ein öffentliches Pissoir. Der Platz ist nur noch ein Schatten des einstigen Symbols stolzen Habsburger Selbstbewußtseins. Vor zwei Wochen veranstalteten Minister von sage und schreibe drei Regierungen — der flämischen Exekutive, der Brüsseler Exekutive und der nationalen Regierung — eine Feier auf dem Platz, um seine Restaurierung anzukündigen. Kaum hatte der flämische Minister den Mund aufgemacht, rief schon eine Frau aus der Menge: „Auf französisch. Auf französisch.“ Der Gebrauch des Flämischen auf dem Platz der Märtyrer sei eine „Entweihung“ französischer Gräber, behauptete sie.

Das Gerippe von einem Staat

Wieder einmal sind die Regierenden wie gelähmt von der Angst vor einem Ausbruch der alten sprachlichen Leidenschaften, die das Land in Stücke reißen könnten. In diesem Monat muß Premierminister Wilfried Martens sich wieder den Wählern stellen und versuchen, seine zehnte Regierung in zwölf Jahren zu bilden. Doch viele zweifeln daran, ob das Land diese Aufruhr überleben kann. Es sieht so aus, als ob der klassische „belgische Kompromiß“ — bei dem jede noch so kleine Minderheit noch mit Macht ausgestattet wird — an seinem Ende angelangt wäre.

Der Mann auf der Straße fühlt sich nicht repräsentiert durch eine Struktur, die sechs Regierungen, 60 Minister, neun Provinzgouverneure und 550 Kommunen ihr eigen nennt. Er ist schlicht verwirrt. Vom Staat selbst ist nicht viel mehr übrig als ein Gerippe. Die Politik in den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Verkehr und Umwelt ist an die Regionen übergeben worden. Auf beiden Seiten wächst der Druck, mit der Sozialversorgung und der Landwirtschaftspolitik sowie mit einigen Aspekten der Außenpolitik dasselbe zu tun. Wenn das passierte, blieben der belgischen Regierung nur noch die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik übrig.

Der Sozialversicherungsetat allein beträgt rund 1.200 Milliarden Belgische Francs (rund 60 Milliarden DM) — der Löwenanteil des 1.700 Milliarden BF zählenden belgischen Haushalts. Die Sozialversicherung zahlt die gesamte Gesundheitsvorsorge, alle Renten und die Arbeitslosenunterstützung — alles kreuz und quer über die Sprachgrenzen hinweg. Das Arbeitslosengeld wird von den Gewerkschaften ausgezahlt, die entlang religiöser, nicht sprachlicher Linien organisiert sind.

Aus Flandern kommt Druck, die Sozialversicherung zu übertragen. Flandern muß ein Extra von 100 Milliarden BF pro Jahr zahlen für die höhere Zahl von Kranken, Alten und Arbeitslosen in Wallonien. Die meisten Flamen wären bereit, für die Unfälle zu zahlen, die Arbeiter in der niedergehenden Schwerindustrie Walloniens erleiden — so lange, wie umgekehrt die Renten bezahlt werden, wenn sich die wirtschaftliche Lage wieder zugunsten Walloniens wendet. Doch sobald die Beziehungen belastet sind, wird der Abzug flämischer Ressourcen zum irritierenden Politikum. „Warum sollten wir weiterhin für sie bezahlen?“ Der Schrei geht durch Flandern. Als nächstes folgt der Vorschlag, die nationale Verschuldung zu teilen — 7.500 Milliarden Belgische Francs.

Spaltungsgrund EG-Beamte

Belgien ist wohlhabend. Es hat eine wachsende, offene Wirtschaft, die zweimal so viel pro Kopf exportiert wie Deutschland. Ein Großteil der Spannung entsteht in Brüssel — ein wuchernder städtischer Ballungsraum, der von einer Armee von Politikern, Lobbyisten und Eurokraten im Dienste der EG umgekrempelt wird. Roland Gillis, der Vorsitzende des Flämischen Komitees der Weinbauregion, klagt über den Zustrom von Ausländern in seine Heimatgemeinde Overijse, südlich von Brüssel. Er meint nicht die Marokkaner, sondern die betuchten Eurokraten.

„Sie haben die Preise so hoch getrieben, daß meine drei verlobten Kinder nicht heiraten können. Sie können es sich nicht leisten, hier zu leben“, klagt Gillis. Von Overijses 23.000 Einwohnern sind 20 Prozent „Europäer“, von den übrigen ist ein Drittel französischsprachig. Gillis: „Dies war einmal eine flämische Weinanbauregion. Jetzt werden wir langsam zu Außenseitern im eigenen Land.“

Die Leidenschaft, die die „Europäer“ genannten zweiköpfigen Monster bei den Flamen hervorrufen, verwundern in einem Land, das sich zur Fürsprecherin für Europa gemacht hat. Die Flamen von Overijse sind gefangen in einem sprachlichen Korridor zwischen dem zum größten Teil französischsprachigen Brüssel und der nördlichen Grenze von Wallonien. Dabei zählt nicht, daß die Fahrer der EG-Volvos und -Saabs nicht das geringste mit diesem Streit zu tun haben. Es geht darum, daß die Flamen sich von ihrem eigenen Land verdrängt fühlen.

Die Verdrängung drückt sich nicht nur darin aus, daß immer mehr Leute nach Brüssel pendeln. Sie zeigt sich auch darin, wohin man einkaufen geht. Ein flämischer Anwohner im Norden Brüssels sagt: „Ich kann kaum noch in Brüssel einkaufen. Wenn ich auf Flämisch nach etwas frage, bekomme ich als Antwort ein ,Comprends pas‘. Im besten Fall muß man warten, bis jemand kommt, der die eigene Sprache spricht. Warum soll ich warten? Ich bin doch derjenige, der all das bezahlt, nicht nur mit dem Geld, das ich über den Tresen reiche, sondern mit meinen Steuern.“

Rechtsradikaler Machtfaktor

Vor zwei Wochen veranstaltete die rechtsradikale flämische separatistische Partei „Vlaams Blok“ ihre erste Demonstration in Overijse. Das Manifest spricht für sich: Unabhängigkeit für Flandern, Rückkehr der nichteuropäischen Immigranten in ihre Heimatländer, Verbot der Abtreibung wegen der niedrigen Geburtenraten, etc. Der 29jährige Parteichef Filip Dewinter: „Wir sind Rechte, aber keine Faschisten oder Neonazis. Wir haben genug von diesem Kompromiß Belgien. Laßt die beiden Staaten ihre eigenen Wege gehen. Wir möchten einen unabhängigen Staat, mit eigenem Geld und einer eigenen Armee. Wir stehen an 18. Stelle auf der Liste der Ökonomien. Warum können wir nicht als unabhängiger Staat funktionieren?“

Dewinters Heimatstadt ist Antwerpen. Europas zweitgrößter Hafen, der in den Händen der Sozialisten ist, so lange man zurückdenken kann. Der „Vlaams Blok“ führte dort eine Randexistenz mit rund zwei Prozent der Stimmen. Das änderte sich 1986 schlagartig, als der „Vlaams Blok“ 17 Prozent der Stimmen und zehn Sitze im Stadtrat erhielt. Heute hat er einen Europaparlamentarier, zwei nationale Abgeordnete und 60 lokale Stadträte in zehn Städten.

Niemand glaubt, daß der „Vlaams Blok“ eine Mehrheit bei den flämischen Wählern bekommen könnte. Aber immerhin ist er in der Lage, Martens Flämische Christdemokraten wegzuhauen, der Machtfaktor, um den sich alle anderen flämischen Parteien drehen.

Eingezwängt zwischen „Vlaams Blok“ und rechten Liberalen auf der einen und der größten flämischen nationalistischen Partei „Volksunie“ auf der anderen Seite, werden die Christdemokraten nervös. Für eine künftige Koalitionsregierung sind möglicherweise fünf flämische Parteien nötig, zusätzlich zu den wallonischen Parteien. Beim letzten Mal brauchte Martens 104 Tage, um eine Regierung zusammenzubringen. Die nächste Regierungsbildung könnte noch länger dauern. Dewinter droht jetzt schon: „Wir könnten die Macht haben, den belgischen Staat zu brechen.“

Die Ansicht, sie seien die Finanziers des belgischen Staates, bringt viele Flamen dazu, einen Eigenweg zu forcieren. Bei den Wallonen ist der Ruf nach Autonomie jedoch nicht weniger stark, auch wenn ihre industriellen Zentren im Stahl- und Kohlebereich längst von Flandern überrundet wurden. Die wallonische Arbeitslosigkeit liegt bei 19,8 Prozent — doppelt so hoch wie in Belgien insgesamt.

Gewehre im Tausch gegen Telefone

Nicht zufällig sind die Wallonen also hartnäckig, wenn es um ihre Industrien geht, wie zum Beispiel die Rüstungsindustrie bei Liège. Dort entschied sich im letzten Monat das Auseinanderbrechen der Koalitionsregierung von Martens.

Die Flamen in der Koalition hatten es abgelehnt, Exportlizenzen für zwei wallonische Waffenexporteure zu gewähren, „FN Herstal“ und „Mecar“. Es ging um einen Rüstungsvertrag mit Saudi-Arabien. Die Flamen opponierten dagegen, weil „Belgien keine Waffen in den Nahen Osten liefern sollte“. Die Verträge waren 30 Milliarden BF wert.

Die Wallonen in der Regierungskoalition reagierten prompt. Sie weigerten sich, Telefonlieferverträge an fernöstliche Staaten zu unterzeichnen. Das Geld — 37 Milliarden BF — wäre hauptsächlich nach Flandern gegangen.

Die „Gewehre gegen Telefone“- Rivalität belebte uralte Konflikte — und verhinderte den Fortgang der Regierungsgeschäfte. In der Hitze des Gefechts unterzeichneten Minister einzelne Verträge und legten andere zur Seite. Schließlich erzwang die Affäre Neuwahlen. Sie sollen am 24. November stattfinden und geben Martens nur wenig Zeit für die Vorbereitung des EG-Gipfels. Die internen Auseinandersetzungen in seinem Land kommen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt für Europas längstgedienten Premierminister. Sie drohen die belgischen Position zur Währungsunion, die beiden Seiten so wichtig ist, zu entkräften.

Unabhängigkeit oder Autonomie?

José Happart wurde berühmt als der Bürgermeister von Les Fouron, eine wallonisch dominierte Enklave in Flandern. Er weigerte sich, flämisch zu sprechen. Heute ist er Mitglied des Europaparlaments, das mit missionarischem Eifer von europäischer Einigung spricht. Er vertraut darauf, daß die Wallonen damit gut fahren. „Ich bin für die Autonomie, nicht die Unabhängigkeit Walloniens. Unabhängigkeit bedeutet die Einrichtung eines souveränen Staates. Autonomie bedeutet, daß jede Regierungsebene die Dinge behandelt, für die sie am geeignetsten ist.“

Da aber alle wirklichen supranationalen Entscheidungen ohnehin auf europäischer Ebene getroffen werden würden, sieht Happart keinen Grund, warum der Nationalstaat nicht insgesamt abgeschafft werden sollte. Belgien war ein Staat, aber niemals eine einzige Nation.

Die Perspektive, die Verbindungen mit Flandern zu brechen, schreckt Happart nicht. „Die Geschichte des Landes war ein Balanceakt, in dem zuerst die Wallonen, dann die Flamen die wirtschaftlich Stärkeren waren. Wir haben die Schwerindustrie gebaut und die Eisenbahnen. Die Flamen haben die Autobahnen gebaut und die Wirtschaft systematisch zu ihren Gunsten strukturiert. Es paßt ihnen, ein Wohlfahrtssystem zu haben, bei dem große Teile der Wallonen arbeitslos sind. Wenn sie sagen, Flandern bezahlt für Wallonien, dann war Wallonien die Milchkuh der Flamen.“

Die Schlachten über die sprachliche Identität von Les Fourons — oder „Voeren“ wie der Ort auf flämisch heißt — haben heute nachgelassen. Die französischen Graffiti an der Kirche Fourons St. Pierre werden als Erinnerung an die Schlachten im Jahr 1980 bewahrt, als Häuser abgebrannt wurden. Hier sind die flämischen Oberherren auf dem Rückzug.

José und sein Zwillingsbruder Jean Marie beaufsichtigen den Bau des ersten wallonischen Kulturzentrums im Ort. Sie haben das Recht, für Kandidaten in Wallonien zu stimmen, obwohl ihr Ort nominell Teil von Flandern ist. Beide Konzessionen sind das Ergebnis von mehr als zehnjährigen Auseinandersetzungen.

„Alles Alte muß sterben, bevor etwas Neues geschaffen werden kann. Vielleicht müssen wir solche Ideen wie die des Nationalstaats erst abschaffen, bevor Europa stark werden kann“, meint Happart.

Wenn es einen Konsens zwischen Flamen und Wallonen gibt, dann den, daß die Dinge nicht bleiben können, wie sie sind. Aber noch ist unklar, wo die neue Linie zwischen dem Staat und den Regionen gezogen werden soll.

Manche beweisen ihren Glauben in die Fortsetzung des belgischen Landes, indem sie Regierungsbonds zeichnen. Warum sollten sie ihr Geld in etwas investieren, das wertlos werden könnte, wenn der Staat zerbräche?

Andere werten die Tatsache, daß es bisher kaum brachiale Gewalt gegeben hat, als Zeichen dafür, daß Belgien trotz des Kriegs der Worte einen Verhandlungsweg aus seiner Krise finden wird. David Hearst