: Der weiße Riese auf dem Bonner Parkett
■ Der dreitägige Deutschland-Besuch des russischen Präsidenten ist vor allem eine Goodwill-Tour. Er braucht Geld und Know-how. Dafür bietet er die schier unerschöpflichen Rohstoffe des Landes. Kohl...
Der weiße Riese auf dem Bonner Parkett Der dreitägige Deutschland-Besuch des russischen Präsidenten ist vor allem eine Goodwill-Tour. Er braucht Geld und Know-how. Dafür bietet er die schier unerschöpflichen Rohstoffe des Landes. Kohl und Waigel aber wollen erst Klarheit über seine Reformen in Politik und Wirtschaft haben. Und sie wollen wissen, was aus Honecker und den Wolgadeutschen wird.
Obwohl in Bonn, ganz wie es sich für eine Noch- Hauptstadt gehört, unentwegt bedeutsame oder gar historische Ereignisse stattfinden, suchen seine Bewohner oft vergeblich nach Neuigkeiten oder Überraschungen. Der Besuch von Boris Jelzin bot ein wirkliches Novum: Vor den Regierungsgebäuden wehte die russische Fahne. Das Protokoll, durch den ungewöhnlichen Status des Gastes besonders gefordert, hielt sich bei der Anzahl der weiß-blau-roten Tücher allerdings zurück. Die Ehrenformation der Bundeswehr spielte nicht die Hymne des Gastlandes, denn bekanntlich unterhält die Bundesrepublik noch keine diplomatischen Beziehungen zu Rußland. Und der Bundeskanzler, der seinen Besucher in aller für solche Gelegenheiten vorgesehenen Form begrüßte, zeigte wieder jene Haltung des vorsichtigen Abwartens, mit der er unbekannte Gäste aus dem Osten eben zu empfangen pflegt.
Boris Jelzin, Präsident der Russischen Föderation, eröffnete seinerseits die dreitägige Besuchsreise mit einem Satz, der kaum floskelhafter klingen könnte. Er erhoffe sich eine neue Epoche der Beziehungen zwischen einem neuen Rußland und einem neuen Deutschland, so Jelzin zu den wartenden Journalisten. Tatsächlich wird mit diesem Besuch in Bonn ein „erstes Kapitel“ von zwischenstaatlicher Beziehung geschrieben. Und es mußte einfach gesagt werden: Nicht nur Rußland hat sich seit dem gut zwei Jahre zurückliegenden Staatsbesuch Gorbatschows völlig verändert, auch die Bundesrepublik Deutschland ist ein anderer Staat geworden. Mit den heute unterzeichneten Erklärungen wird der Ausbau der Beziehungen fixiert, Jelzin wird die Parteichefs besuchen und in die Bundesländer reisen — das Programm eines ordentlichen Staatsbesuchs, bei dem notgedrungen vieles offenbleibt.
Jeder weiß, daß Jelzins Rußland den nächsten Monaten mit größten Befürchtungen entgegensieht und er, wenn nicht als Bittsteller, so doch Werber um Hilfe für sein Land kommt. Aber auch die Bundesrepublik will etwas von Jelzin. Honecker und die künftige Wolgarepublik sind Gesprächsthemen, vor allem aber nutzt die deutsche Politik den Besuch zu Orientierungszwecken. Wer ist der Gast, den in der Bundesrepublik vor dem August-Putsch in der Sowjetunion kaum einer so recht ernst nehmen wollte? Welches Gewicht hat die russische Republik neben der Union und den anderen Republiken der zerfallenen Großmacht? Vielleicht hat Jelzin seine deutschen Gesprächspartner sogar erleichtert, als er unmittelbar vor dem Besuch die Erwartungen auf konkrete Ergebnisse dämpfte. Weder hat er Honecker in seinem Gepäck mitgebracht, wie er es noch eine Woche zuvor am liebsten gewollt hätte, noch liefert er befriedigende Aussichten für die Sowjetdeutschen. Honecker, ließ Jelzin am Vorabend seiner Reise über die bundesdeutschen Fernsehkanäle wissen, sähe er am liebsten im chilenischen Exil, aber darüber hätten Gorbatschow und die Bundesrepublik zu entscheiden. Wer will sagen, ob das Jelzins oft beschriebene Sprunghaftigkeit oder sein ganz besonderes Geschick ist. Die Bundesrepublik wird jedenfalls weiter laut die Auslieferung Honeckers fordern können, ohne ihr ins Auge sehen zu müssen. Die mageren Aussichten für die Sowjetdeutschen — 6.000 Quadratkilometer ehemalige Truppenübungsplätze an der Wolga — werden für Dauergespräche zwischen Rußland und der Bundesrepublik sorgen. Zwei Millionen Aussiedler könnten in die Bundesrepublik kommen. Und nicht nur sie. Die Bundesrepublik Deutschland ist die erste Adresse für die Flüchtlinge, die sich wegen Hunger, Armut und Zukunftslosigkeit auf den Weg nach Westen machen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung weiter in den Abgrund führt. Während Jelzin am Rhein verweilt, verhandeln die Vertreter der reichen Industriestaaten in Moskau um die Schuldenregelungen, und Schewardnadse ist wieder Außenminister geworden. Die Bundesrepublik kann als Brückenkopf in den West-Ost-Beziehungen kein außenpolitisches Feld mehr besetzen, ein neuer Standort fehlt noch. Tissy Bruns, Bonn
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