Der Traum vom Kinderraum

■ Eine Untersuchung vor fast 20 Jahren ergab, daß 90 Prozent der bundesdeutschen Kinder zwar eigene Zimmer haben, diese aber häufig die kleinsten Räume der Wohnung sind. Außer den Kindern scheint das bis heute...

Eine Untersuchung vor fast 20 Jahren ergab, daß 90 Prozent der bundesdeutschen Kinder zwar eigene Zimmer haben, diese aber häufig die kleinsten Räume der Wohnung sind. Außer den Kindern scheint das bis heute niemanden beeindruckt zu haben. VON BÄRBEL PETERSEN

A

ls Dorothee und Anne von ihren Großeltern zurückkamen, trauten sie ihren Augen nicht: das Kinderzimmer war frisch tapeziert, neue Möbel schafften mehr Platz. Am besten fanden sie die rote Ziehlampe an der Decke und die rote Stehlampe am Bett. Seit sie dort wohnen, teilen Dorothee und Anne sich 9 Quadratmeter. Ihr Bruder hat ein eigenes Zimmer, das aber auch sehr klein ist. Überhaupt haben die Architekten des Neubauviertels in Berlin- Hohenschönhausen den Kinderzimmern nur sehr wenige Quadratmeter zugebilligt. Darin unterscheiden sie sich nicht von westlichen Planern.

Nach einer Untersuchung der Zeitschrift 'Schöner Wohnen‘ von 1973 haben zwar 90 Prozent aller Kinder und Jugendlichen ein eigenes Kinderzimmer, aber ihre Räume sind viel zu klein. Das ist zum Teil eine Folge deutscher Normbestimmungen. DIN-Norm 18011 legt für die unbedingt notwendigen Möbel eine Stellfläche von exakt 4,04 Quadratmeter fest, dazu — als Bewegungs- und Spielfläche — je Kind genau 2,16 Quadratmeter, zusammen also 6,2 Quadratmeter. Fast ein Viertel aller Kinder bis zwölf Jahre, heißt es in der Studie, muß ein Zimmer von 11 bis 15 Quadratmetern mit Geschwistern teilen, neun Prozent wohnen sogar auf noch engerem Raum zusammen. Noch vor einem Jahr galt dem Deutschen Institut für Normung (DIN) Berlin ein Kinderzimmer von 8 Quadratmetern als durchaus „kindgerecht“. Erst nach bundesweiten Protesten gegen derartige „Kinderkäfige in Wohlstandswohnungen“ hat das Institut diese Norm zurückgezogen. Geert Zebothsen, Chefredakteur des Elternmagazins 'Unser Kind‘, schrieb 1980 in dem Begleitheft zur Hamburger Sonderschau „Unser Kinderzimmer“, Kinderzimmer hätten sich im Schnitt auf zehn bis 12 Quadratmeter gemausert.

Dorothee möchte auch viel lieber ein großes Zimmer für sich allein. „Da müßte dann ein großer Schreibtisch mit einem roten Drehstuhl rein, denn rot ist meine Lieblingsfarbe“, träumt die Neunjährige. Jetzt macht sie ihre Schularbeiten auf einer Klapp-Platte unter dem Fenster, die mit unzähligen Aufklebern gepflastert ist. Aufkleber sollten auch in ihrem eigenen Zimmmer nicht fehlen: „Die finde ich schau“, strahlt sie. Nur auf die Möbel dürften keine Aufkleber drauf. „Das wollen meine Eltern nicht“, erzählt Dorothee. Aber die von den Eltern ausgesuchten Möbel — das Bett, ein Kleiderschrank, zwei Regale, ein schmaler Tisch mit zwei Sitzbänken und eine Kommode — findet sie gut, auch wenn sie beim Einkaufen nicht selbst dabei war.

Nach landläufigen Vorstellungen haben die meisten Kinder in ihrem Zimmer, was sie brauchen. 79 Prozent der Mütter glauben, daß sich ihre Kinder dort wohl fühlen. Im eigenen Haus oder der Eigentumswohnung sind sich 85 Prozent der Mütter sicher. 70 Prozent der Kinder sind mit ihren eigenen vier Wänden zufrieden. Zwar hat fast jedes Kind ein Bett, nach der Untersuchung von 'Schöner Wohnen‘ aber müssen 160.000 Jungen und Mädchen ihr Bett mit Geschwistern teilen. Ein Schrank fehlt kaum in deutschen Kinderzimmern. Jedoch sind die meisten abgelegte Stücke, etwa aus ehemaligen Wohnzimmern — nicht selten geerbt —, die in Ehren gehalten werden müssen und von vornherein Toben und Umbauen ausschließen. Annähernd in jedem Kinderzimmer steht ein einfacher Tisch, an dem die Kinder spielen, basteln, malen oder Hausaufgaben machen können. Aber nur jeder dritte Schüler besitzt einen richtigen Schreibtisch. Jedes vierte Kind hat ein gut beleuchtetes Zimmer: mit Deckenlicht, Schreibtischleuchte und Deckenlampe. Die Beleuchtung indes ist ein finsteres Kapitel in bundesdeutschen Kinderzimmern: Jeder dritte Raum wird nur durch eine einzige Lampe erhellt.

Die rote Ziehleuchte in dem Kinderzimmer von Dorothee und Anne hat drei Strahler, die sich beliebig verstellen lassen. So eine Lampe will Dorothee später auch in ihrem eigenen Zimmer haben. Aber das wichtigste wird eine „Möhlecke“ sein, wo „ich alles reinschmeiße, wenn ich aufräume“. Dort stellt sie dann ein Schild auf mit dem Hinweis: „Nichts durcheinanderbringen!“. Vom Aufräumen hält Dorothee nämlich überhaupt nichts. Da geht es ihr wie den meisten Kindern. Meist wühlen sich die Mütter durchs Chaos im Kinderzimmer und bringen mit ihrem Ordnungssinn alles wieder in Unordnung. „Ich finde dann überhaupt nichts mehr und muß Mutti fragen, wo meine Sachen sind“, stöhnt die Neunjährige.

Das Thema Unordnung zählt seit Generationen zu den beliebtesten Konflikten zwischen Eltern und Kindern. Wild herumliegende Spielsachen gelten schon als Unordnung, dem meist ein „Was für ein Chaos!“ folgt. Kinder können diesen Aufschrei nicht nachempfinden, denn für sie ist alles ringsum in bester Ordnung. Viele Eltern nehmen die Gestaltung des Kinderzimmers noch immer selbst in die Hand, ohne die Kinder miteinzubeziehen. Dabei ist es gerade jener Raum der Wohnung, in dem sich die Kinder am meisten aufhalten — länger als ein Erwachsener in seinen eigenen Räumen. Dorothee hat zwar auch nicht beim Einrichten geholfen; das Zimmer sollte ja eine Überraschung sein. Trotzdem würde sie auf die bunte Tapete gern Poster hängen. „Aber meine Eltern sagen, dann geht die Tapete kaputt, und sie müßten wieder renovieren“, sagt sie. Vor zehn Jahren starrten über 95 Prozent der Kinder auf kahle Wände, weil dort weder Bild noch Poster hingen, schrieb Zebothsen vor elf Jahren. 75 Prozent der Kinder wurden beim Einrichten ihres Zimmers überhaupt nicht gefragt. Im „Internationalen Jahr des Kindes 1979“ standen solche Untersuchungen auf der Tagesordnung. Danach wurde es ruhiger, und so finden sich in der Literatur kaum Hinweise auf neuere Studien. Das in diesem Jahr erschienene Buch von Alphons Silbermann: Neues vom Wohnen der Deutschen aus dem Kölner Verlag Wissenschaft und Politik, räumt dem Kinderzimmer lediglich eine Seite ein. So erfährt man immerhin, daß das Kinderzimmer nicht selten „zusätzlich noch von der ganzen Familie genutzt wird, indem dort der Eßtisch steht oder es als Nähraum dient“.

Ganz anders dagegen sind die oft überraschenden Ideen der Kindermöbel-Designer. Haltungsschäden fangen bei den Kleinsten an. Schreibtische, die nicht in Schräglage gebracht werden können, tragen dazu bei, den Rücken schon im Kindesalter zu belasten und zu verformen. Aber viel zu selten wird bei den Kindermöbeln die Malwut der Kleinen berücksichtigt. Leicht abwaschbare Möbel sind eher die Ausnahme.

Dorothee läßt ihrer Malwut auf einer kleinen abwaschbaren Tafel freien Lauf. Die könnte schon ein bißchen größer sein, aber wenn sie im nächsten Jahr in das neue Haus einzieht, wird auf dem großen Schreibtisch Platz genug sein, meint sie. Außerdem wünscht sie sich einen weißen Teppich, den sie bemalen kann. Und Blumen dürften nicht fehlen! Am liebsten Sonnenblumen in einem großen Topf.