Space-Sex und Pharmako-Mystik

Es gibt was gutes Neues von den kalifornischen Kitschherzchen. Keine neue Droge und auch kein neuer Psycho-Schwachsinn, sondern ein dickes Buch : PIHKAL — A Chemical Love Story von Alexander und Ann Shulgin. Die Biozyklopädie zweier Pharmako-Psychonauten.

„PIHKAL“ ist die Abkürzung für „Phenethylamines I Have Known And Loved“, zu deutsch etwa „Phenäthylamine, die ich kennen und lieben gelernt habe“. Phenäthylamine (z.B. Ecstasy oder Meskalin) sind neben den Tryptaminen (z.B. Pilze oder DMT) oder Ergolinen (z.B. LSD oder Ololiuqui) die interessanteste Gruppe von Stoffen mit Auswirkungen auf das menschliche Bewußtsein. Alexander Shulgin, ein allseits respektierter Universitätschemiker, erforscht seit vielen Jahren die Auswirkungen solcher Substanzen auf unsere Psyche und ist dabei ganz nebenbei auch zum Papst der nicht-akademischen Forscherszene und der Untergrund-Alchemisten geworden. Zusammen mit seiner Geliebten Ann Shulgin und einem engen Kreis von Freunden hat er über Jahrzehnte hinweg neue, von ihm selbst ausgedachte und hergestellte Moleküle am eigenen Leib und an der eigenen Seele getestet. Das Buch PIHKAL — A Chemical Love Story ist nun die Frucht dieser Aktivitäten — ein sehr persönlicher Bericht über das Leben zweier Pharmakopsychonauten und ein Nachschlagewerk, in dem der Chemiker die Syntheseanleitungen, der Pharmakologe die Dosierung und Wirkungsdauer und der interessierte Hobby-Schamane kurze Erlebnisberichte finden kann.

Der erste Teil des Wälzers erzählt die Love-Story zweier fiktiver Charaktere, Dr. Shura Borodin und Alice Parr, deren Lebensläufe allerdings denen von Dr. Alexander Shulgin, von seinen zahlreichen Verehrern „Sasha“ genannt, und seiner späteren Frau Ann nicht ganz unähnlich sind. Auch alle anderen Charaktere des biographischen Teils sind ausreichend verfremdet, um Behörden und hysterischen Moralisten des im Niedergang befindlichen Amerika den direkten Zugriff zu erschweren. Trotz alledem sollte eines klar gesagt werden: Wer dieses Buch haben will, der sollte sich beeilen. Stellt Euch ein Exemplar sicher, bevor die Alkoholindustrie und die Rüstungschristen zu beiden Seiten des Atlantiks es sich anders überlegen.

Im ersten Teil erzählt Borodin von Kindheitserlebnissen, seiner Zeit auf dem Zerstörer USS Pope und an der Universität von Berkeley bis zu seiner ersten Begegnung mit Meskalin im April 1960. Bald darauf begann er, LSD an Fischen in seinem Labor zu erproben. Sein weiterer Weg führte ihn über TMA und MMDA schließlich zu DOM, das sein ganz persönliches „Sorgenkind“ wurde. Ende der sechziger Jahre tauchte DOM (ein 14- bis 20stündiger Trip) nämlich unter dem Namen STP in meist vier- bis fünffacher Überdosierung auf der Straße auf, was dazu führte, daß sich nach einigen Rockkonzerten in der Bay Area die psychiatrischen Notaufnahmen in überfüllte Affenställe verwandelten. Bis Mitte der 60er hatte Borodin für den Chemiegiganten Dole geforscht, der Farmer mit Insektiziden und die US- Soldaten mit Herbiziden versorgte. Nun war es an der Zeit, ein privates Labor zu eröffnen.

Im zweiten Teil schildert Alice ihre ganz eigene spirituelle Biographie, von der Kindheit über ihren ersten Ausflug in die vom Kaktus geöffnete Welt bis zur Begegnung mit Shura Borodin im Jahre 1978. Sie erzählt von ihren Begegnungen mit 2-CB und Pilzen, von scharlachroten Orgasmen auf 2C-T-2 (mit Händel im Hintergrund) und davon, wie es ist, wenn man den feueratmenden DOM-Drachen mit den schwarzgoldenen Flügeln aus seiner Höhle gelockt hat und ihn dann an der Leine spazierenführt. Und immer wieder überwältigende erotische Erlebnisse auf Substanzen, deren Namen selbst in den höheren Kreisen der Hirnfeuerwerker nur selten fallen. Space Sex, Walking the Dragon und auch Playing the Insanity Game.

Auch der dritte Teil ist eine Art psychedelisch-erotisches Logbuch: Wir erfahren, wie zwei Amerikaner auf 16 mg 4-Jod-2,5-dimethoxy- PEA in einem Hotel in Aachen Kontakt mit dem Geist der Stadt aufnehmen und über das Sexualleben der Deutschen spekulieren. Bei alledem handelt es sich aber nicht nur um eine Anekdotensammlung, sondern nebenbei auch um ein unaufdringlich geschriebenes Lehrbuch für den produktiven Umgang mit psychoaktiven Substanzen jenseits des Alkohol-Paradigmas. Gegen Ende des ersten Buches finden sich auch Protokolle, die weit über den Bereich des Hedonismus oder therapeutischer Selbsterfahrung hinausführen, nämlich von pharmakologisch ausgelösten mystischen und religiösen Erlebnissen. Das Schlußkapitel bildet eine Universitätsvorlesung von Shura, in der er — der die juristische Situation als langjähriger Gerichtsgutachter so gut kennt, wie kaum ein anderer — die „Just Say No“-Propaganda und den immer fanatischere Züge annehmenden War on Drugs in Amerika mit der Politik der Nazis in Deutschland vergleicht. Man muß sich gegen jede Verharmlosung des Dritten Reiches wehren, trotzdem ist es klar, daß es das Recht jedes Bürgers in einer freien Gesellschaft sein muß, mit seinem Gehirn zu machen, was er will — solange er andere nicht beeinträchtigt und für etwaige Folgeschäden selbst aufkommt. Mein Gehirn gehört mir. Shulgin rechnet vor, daß nur 1% der Drogentoten in den USA durch illegale Drogen sterben, 99% sterben an Alkohol, Tabak oder Medikamenten. Trotzdem braucht die politische Führung der USA natürlich einen inneren Krieg, die Moral Majority und der militärisch-administrative Komplex müssen bei Laune gehalten werden: Deshalb der lächerliche War on Drugs. Man kann nur hoffen, daß wenigstens die europäische Rechtskultur sich bis zur endgültigen Legalisierung aller psychoaktiven Substanzen an dem Grundsatz orientiert, den Jimmy Carter 1977 formuliert hat: „Strafen wegen dem Besitz eine Droge sollten der einzelnen Person keinen größeren Schaden zufügen als der Gebrauch der Droge selbst.“

Michael Valentine Smiths Untergrundklassiker Psychedelic Chemistry ist ein Schulbubenstreich gegen den zweiten Teil von PIHKAL: Ein komplettes Kochbuch für 179 Phenäthylamine. Neben den elegantesten Synthesewegen finden sich Erörterungen über mögliche weitere Variationen des Moleküls, sowie Fingerzeige auf zukünftige Forschungsprojekte. Die „Qualitative Comments“ umfassen häufig mehrere kurze Erfahrungsberichte in verschiedenen Bereichen des Dosierungsspektrums, die dem aufstrebenden Neo-Psychedeliker Hinweise auf zu erwartende Nebenwirkungen und die Struktur des durch die Substanz geöffneten Erlebnisraums geben. Ein unschätzbares Nachschlagewerk, das, wie Professor David Nichols von der Universität Indiana in seinem Vorwort bemerkt, in keiner psychedelischen Bibliothek fehlen darf.

Jedes Kind weiß mittlerweile, daß MDMA auch Adam genannt wird und MDEA Eve. Aber habt ihr schon mal was von GANESHA gehört ? Ganesha dauert so 18 bis 24 Stunden und ist das 2,5-Dimethoxy-3,4-dimethylamphetamin. Oder von den zehn Classic Ladies ? Da gibt es das Molekül Beatrice (benannt nach einer berühmten Florentinerin in Dante's Göttlicher Komödie; das N-Methyl-DOM) oder Elvira (in Anspielung auf Mozarts 21. Klavierkonzert) oder auch Ariadne (die Theseus aus dem psychedelischen Labyrinth rettete; 4-CD-DOM). Es gibt auch Moleküle, die man wegen zu erwartender toxischer Effekte lieber nicht nehmen sollte, wie Aleph-4, und andere wie 2C-T-4, die als wirklich interessante neue Errungenschaften mit therapeutischem Potential erscheinen. Sasha Shulgin hat demonstriert, daß ein ernsthaftes Interesse an der Erforschung unserer Innenwelt nicht vor Gesetzen und psychedelischem Analphabetentum kapitulieren darf und der nicht-akademischen Bewußtseinsforschung eine Flut an wertvollem Material zur Verfügung gestellt. Wenn man dieses Material auch nur flüchtig betrachtet, dann wird eines deutlich : Keine Kultur hat so viele und so machtvolle pharmakologische Katalysatoren für die Erzeugung veränderter Bewußtseinszustände entwickelt, wie die westliche. Und keine Kultur tut sich so schwer mit der Entwicklung verantwortungs- und sinnvoller Formen, um diese Bewußtseinszustände zu nutzen, wie eben diese westliche Kultur. Ist das nun ein Mangel an Rationalität, ein Mangel an Fantasie oder einfach die auslaufende christliche Moraldiktatur?

Also, Europsychedeliker: Sasha Shulgin hat die Phenäthylamine gemacht. Wer macht die Ergoline und die Tryptamine ? Fragt Euch:

Dr. Incredible

Alexander Shulgin/Ann Shulgin: PIHKAL — A Chemical Love Story. Transform Press (Box 13675, Berkeley, CA 94701), 978 Seiten, 18.95 $, ISBN: 0-9630096-0-5