Kulturgut für den Binnenmarkt

■ Für das „Jahrhundert-Ereignis Binnenmarkt“ sind kulturpolitische Konzepte gefragt, Bücher sind schließlich andere Waren als Äpfel und Birnen. Dr. Olaf Schwencke (SPD), Ex-Europaparlamentarier und Mitglied der deutschen Delegation der ersten KSZE-Kulturkonferenz in Krakau, plädiert für eine europäische Kulturpolitik, die nationale und vor allem regionale Kooperationen unterstützt. Besonders für Osteuropa könnte das einen kreativen Aufschwung bedeuten.

Die Europäische Gemeinschaft, 1957 durch Unterzeichnung der Römischen Verträge konstituiert, begann als Wirtschafts- und Atomgemeinschaft. Die Entwicklung eines „gemeinsamen Marktes“ sorgt seither bekanntlich für Butter-, Äpfel- und Schweineberge und für eine bürokratische Mammutbehörde in Brüssel. Vor fünf Jahren paraphierten die inzwischen zwölf Staaten eine „Einheitliche Europäische Akte“, die die Errichtung eines Binnenmarktes ab 1992 vorsieht.

Kulturelle Aspekte Europas finden zwar bei Sonntags- und Wahlreden gern Anwendung, spielen aber im Alltag von Kommission, Ministerrat und Parlament nur indirekt eine Rolle: als Medien-, Steuer- oder Infrastrukturpolitik. Da die rechtliche Grundlage der Gemeinschaft Kulturgütern keine Sonderstellung einräumt, werden sie wie andere Waren oder Dienstleistungen behandelt. Das heißt, die Prinzipien des „freien Marktes“ können und müssen im Grunde auch auf diesem Gebiet geltend gemacht werden. Unter diesen Voraussetzungen war die weitgehende kulturpolitische Abstinenz der EG-Einrichtungen bislang das kleinere Übel. Vereinzelte Vorstöße der Kommission, die — obwohl nicht gewählt — das Recht zur Gesetzesinitiative hat, lassen für die Zukunft jedoch kaum Gutes erwarten. Mit Hinweis auf unzulässige Wettbewerbsverzerrungen wurde etwa versucht, die Filmförderung europaweit zu vereinheitlichen oder die Buchpreisbindung aufzuheben. Bisher konnten solche „Harmonisierungsbestrebungen“ nicht durchgesetzt werden, das Europaparlament und kulturpolitische Experten aller beteiligten Länder sprachen sich dagegen aus. Aber das „Jahrhundertereignis Binnenmarkt“ verlangt zum Schutz nationaler und regionaler kultureller Besonderheiten nun mehr als die Verteidigung eines unbefriedigenden Status quo. Kulturpolitische Konzepte sind gefragt.

taz: Warum sehen die Römischen Verträge keine Kulturkompetenz der Europäischen Gemeinschaft vor?

Schwenke: Die EWG wurde als Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert. Der erweiterte Kulturbegriff, der das alltägliche Leben und damit auch die ökonomische Struktur einschließt, war damals keineswegs Gemeingut. Die kulturpolitische Verantwortung des Staates wurde nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus überall sehr zurückhaltend beurteilt, Kulturpolitik ist auf nationaler und kommunaler Ebene überhaupt ein vergleichsweise junges Politikfeld. Außerdem waren die kulturpolitischen Systeme der Teilnehmerstaaten außerordentlich unterschiedlich und sind es noch — die Bundesrepublik etwa hat eine föderale Ordnung, Frankreich eine eher zentrale. Im Vereinheitlichungsdenken der EWG hätte diese Heterogenität zwangsläufig Schaden genommen.

Welche Folgen hatte diese rechtlich-organisatorische Verfassung für kulturpolitische Belange in der Europäischen Gemeinschaft?

Daraus folgt zunächst, daß keine Handhabe existiert, mit kulturellen Waren oder Dienstleistungen ihrer Eigenart und Schutzbedürftigkeit entsprechend umzugehen. Bücher sind aber nicht wie andere Waren, wie Äpfel oder Birnen zu behandeln. Um den Erhalt der Buchpreisbindung haben wir im Parlament heftig gekämpft, wettbewerbspolitisch geht sie ja tatsächlich mit den Römischen Verträgen nicht konform. Trotzdem können auch positive Impulse von der europäischen Kulturpolitik ausgehen, so das Wegfallen der Umsatzbesteuerung kultureller Produkte. Aber im Großen und Ganzen war die Kulturpolitik in der EG immer ein marginales Gebiet. In den letzten Jahren hat es nun verschiedene Gründe dafür gegeben, daß Kulturpolitik an Aufmerksamkeit gewinnt: Kulturpolitik ist heute als Gesellschaftspolitik weitgehend akzeptiert. Daran haben der Europarat und die Unesco, für die Europa die gesamte nördliche Halbkugel umfaßt, entscheidenden Anteil. Ihr Einsatz für kulturelle Demokratie, Partizipation und den Gesellschaftsbezug von Kultur hat langfristig eine Klimaveränderung bewirkt. Das waren Gedanken, die im europäischen Parlament in den siebziger Jahren allmählich Niederschlag fanden. Auch die Kommission schlägt seit den siebziger Jahren mehrfach eine „Verstärkung der Gemeinschaftsaktion im Bereich Kultur“ vor, konkrete Themen sind zum Beispiel die Lage der Kulturschaffenden oder der vereinfachte Austausch von Kulturgütern. Doch gibt es eine regelrechte kulturpolitische Offensive der Europäischen Gemeinschaft erst mit Blick auf die gewachsenen kulturökonomischen Herausforderungen, Schwerpunkte sind dabei die Förderung der (alten und neuen) Medien. Jean Dondelinger, dem zuständigen Kommissar, obliegen drei Gebiete, Denkmalpflege, die Unterstützung von bildender und darstellender Kunst und eben die Förderung der audiovisuellen Medien. Im letztgenannten Feld liegen die Hauptaktivitäten. Schon 1987 formulierte die Kommission mit Blick auf die neuen Technologien: „Jede Verzögerung würde den europäischen Markt, den reichsten der Welt, zur Beute außereuropäischer Industrieunternehmen machen.“ Das ist unmißverständlich. Die entscheidende Frage, die noch offen ist, lautet, ob wirtschaftliche Kriterien der einzige Gesichtspunkt zur Bewertung von Medien- oder Alltagskultur sein dürfen. Daß kulturelle Werke und Prozesse auch wirtschaftliche Effekte haben, ist heute allgemein bekannt. Deshalb ist es umso wichtiger, den kulturellen Eigenwert zu betonen.

Erfordert die absehbare Vereinheitlichung und Standardisierung durch den europäischen Binnenmarkt denn tatsächlich eine rechtlich verbindliche Regelung von Kulturfragen?

Meiner Meinung nach darf es keine EG-Kulturpolitik geben, sinnvoll ist allerdings die Ergänzung kommunaler, regionaler und nationaler Initiativen durch EG Förderungsaktionen im kulturellen Bereich. Im Zuge des Binnenmarktes besteht jetzt die Gefahr, daß der immer auch eine wirtschaftliche Dimension enthaltende kulturelle Sektor unbemerkt mitstrukturiert wird. Und zwar, denkt man an die EG- Agrarpolitik, in Richtung Öde und Monokultur: Sollte zum Beispiel die Förderung regionaler und nationaler Filmlandschaften durch EG-Vorgaben weiterhin so erschwert werden, wie dies heute der Fall ist, sehe ich kaum einen Lichtblick. Jetzt ist durch die fehlende rechtliche kulturelle Regelung endgültig eine Zwangslage entstanden, der bisherige Status läßt sich nicht weiter konservieren. Mit Blick auf den Binnenmarkt ist eine Regelung der EG-Kulturpolitik unabdingbar geworden, auch wenn so weit „oben“ angesiedelte adminstrative Leitlinien dem Wesen von Kultur eigentlich widersprechen.

Das heißt, die Römischen Verträge sollten durch eine Kulturklausel ergänzt werden?

Müssen notwendigerweise ergänzt werden, würde ich sagen. Dabei muß natürlich sehr aufmerksam darauf geachtet werden, daß die EG- Institutionen nicht in regionale und kommunale Verantwortlichkeiten hineinregieren und daß die Zusammenarbeit mit dem Europarat sowie den Teilnehmerstaaten der KSZE sichergestellt wird. Europa ist schließlich mehr als die EG.

Die Kommission arbeitet gleichzeitig Gesetze aus und ist das Verwaltungsorgan der Gemeinschaft. Es liegt nahe, vorsichtig formuliert, von „vordemokratischen“ Zuständen zu sprechen. Sollte der vertraglich gesicherter Kulturauftrag trotzdem an die Kommission ergehen?

Es sollte zunächst von der Kommission verlangt werden, ihre Vorstellungen zu präzisieren und die Entscheidung einer Diskussion im Parlament zu überlassen. Erst 1989 ist die Kulturarbeit überhaupt in den Rang einer Generaldirektion erhoben, sozusagen vom Referat zum Ressort befördert worden. Außer einer starken Priorität der Medienpolitik läßt sich jedoch bisher kaum ein kulturpolitisches Konzept ablesen. Für die EG käme es aber darauf an, das Verhältnis von Kultur und Wirtschaft neu zu überdenken und daraus Aktionen zu entwickeln, die nationale und regionale Kooperationen unterstützen. Diese verschiedenen gesellschaftlichen Sphären lassen sich nur auf Kosten der Vision einer „civil society“ gegeneinander ausspielen.

Kultur und Gesellschaft haben sich also aufeinanderzubewegt?

Ja, sowohl faktisch, wie in den theoretischen Konzepten. Vor vierzig Jahren repräsentierte Kultur noch allgemein das überzeitlich Schöne, Gute und Wahre. Später galt Kultur dann als Gegenwelt zu einer primär an technischen und ökonomischen Gesichtspunkten orientierten Gesellschaftsentwicklung. Heute sehen wir, daß die Kultur mit dem Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung untrennbar verbunden ist. Modernisierungsprozesse produzieren und bedürfen kultureller Elemente, ansonsten sind ihre Ergebnisse inhuman. Im Grunde dürfte es kein Wirtschaftsförderungsprogramm mehr geben, das nicht auch kulturelle Bedürfnisse und Fähigkeiten aufgreift. Für Mittel- und Osteuropa ist diese Perspektive außerordentlich wichtig.

Kann Kulturpolitik auf so komplexe Prozesse überhaupt Einfluß nehmen?

Wenn sie konzeptionell durchdacht und nah an den Angelegenheiten der Menschen ist, kann sie zur Modellierung und Modernisierung der Gesellschaft jedenfalls beitragen. Vielfältige kulturelle Lebenswelten und Lebensformen sind Ressourcen für entwickelte Modernität.

Daß sie durchdacht ist, kann man von der bisherigen Kulturpolitik der EG kaum behaupten. Reagieren nicht gerade Künstler allergisch auf derartige Mammutbehörden? Doch, natürlich. Deshalb halte ich es aus kulturpolitischer Sicht für unerläßlich, daß in den revidierten Römischen Verträgen eine „dritte Ebene“, die der Region eingeführt wird. Der Bundesrat hat kürzlich eine derartige Initiative eingebracht, die vom Kommissionspräsidenten Jacques Delors begrüßt wurde. Mag der Bundesrat dabei auch weniger an der Stärkung von Regionen als vielmehr an die Sicherung seines eigenen Einflusses gedacht haben, könnte doch das Ergebnis sinnvoll sein: Regionen als integralen Bestandteil einer entstehenden Europäischen Union anzuerkennen und durch das Subsidiaritätsprinzip zu stärken.

Die Versammlung Europäischer Regionen (ARE) definierte 1985, Regionen seien „Gebietskörperschaften, die unterhalb der nationalen Regierung angesiedelt sind und über ein politisches Organ im Sinne einer direkt gewählten Regionalkammer verfügen“. Wie viele solcher Gebilde mag es im EG-Europa geben?

Wahrscheinlich weit mehr als zweihundert, und viele liegen „quer“ zu den herkömmlichen Landesgrenzen. Natürlich ist es eine schwierige Aufgabe, demokratische Strukturen für eine solche Vielfalt zu entwickeln. Aber die Regionen sind der kulturelle Reichtum Europas, werden sie für den Prozeß der politischen Einigung nicht genutzt, bleibt er administrativ und steril.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund Unternehmungen wie das „Europäische Jahr der Musik“ die alljährliche Wahl einer Kultur(haupt)stadt Europas? Welchen kulturellen Wert hat das?

Schadet nichts, nützt aber auch nicht viel. Der Werbeeffekt bei der Kür der Kulturhauptstädte wird allemal höher als der kulturelle veranschlagt. Besonders deutlich wurde das an Glasgow im vergangenen Jahr, das öde Image der Industriestadt sollte korrigiert werden, aber konzeptionelle kulturpolitische Überlegungen standen dabei nicht im Mittelpunkt.

Erfährt die Region derzeit eine Aufwertung durch das Zerbrechen der Machtblöcke?

Dadurch werden Regionen wieder wahrnehmbar als kulturelle Einheiten und das sind sie meines Erachtens in erster Linie. Region ist Sprache, Geografie, Arbeit, kulturelle Tradition, Architektur, sozialer Konfliktstoff, alltägliches Erleben und Solidarität der Menschen. Regionale Räume sind solche bestimmter Lebenswelten. Deutlich können wir das derzeit in den Ländern Ost- und Mitteleuropas erkennen. Sie befreien sich von der Häßlichkeit und Tristesse des realen Sozialismus und entfalten wieder regionale Besonderheiten. Diesen Entwicklungen müssen wir politisch, auch kulturpolitisch gerecht werden. Kulturpolitik in Europa darf meines Erachtens keine EG-Kulturpolitik sein. Sie ist nur ein Ausschnitt. Unesco und Europarat, wie schon erwähnt, beziehen sich auf größere Einheiten, und am ersten KSZE-Kultursymposion vor wenigen Monaten in Krakau nahmen 34 Staaten teil, eben all die, die zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gehören. Die Teilnehmerstaaten unterstreichen in dem Schlußdokument ausdrücklich eine europäische Kulturpolitik, die regionale und lokale Kulturen fördert, einschließlich jener der nationalen Minderheiten, die eine Bereicherung des kulturellen Lebens darstellen.

Konterkariert der beabsichtigte Binnenmarkt nicht diese Entwicklungen, indem er erneut auf Zentralismus setzt?

Man kann sicher sagen, daß er dringend einer demokratischen wie kulturellen „Unterfütterung“ bedarf. Wenn aufgrund von EG-Gesetzesharmonisierungen immer mehr Entscheidungen von den nationalen Parlamenten nach Brüssel übergehen und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments nicht gleichzeitig deutlich wachsen, wird dies für die Entwicklung in Mittel- und Ost- Europa zweifellos schädlich sein. Etwa auch für die neuen Bundesländer der ehemaligen zentralistisch regierten DDR, die dann kaum eine Chance hätten, gewachsene historische Gegebenheiten zu entwickeln. Ich bin überzeugt davon, daß nur dieses lokale und regionale „Eigene“ letztlich Voraussetzung dafür sein kann, daß die gegenwärtige Wirtschaftsmisere überwunden wird. Die lange unterdrückte kulturelle und sprachliche Tradition kann die Kreativität freisetzen, die für eine wirtschaftliche Erholung die notwendige Voraussetzung darstellt.

Kann diese Freisetzung nicht auch die Tendenz zur Abgrenzung verstärken Nenner?

Peter Glotz hat einmal gesagt: „Wenn das einzige, was in Europa multikulturell ist, die Slums der Metropolen sind, wird es überall rechtspopulistische Revolten geben.“ Wie zutreffend diese Diagnose ist, bewahrheitet sich ja bereits. Wenn ich sage, Kulturpoltik ist immer auch Friedenspolitik, dann meine ich, daß Kulturpoltik entscheidend zur Zivilisierung der Gesellschaft beitragen kann. Sie kann Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung und Pluralisierung erlebbar und gestaltbar zu machen, die ansonsten nur erlitten und aggressiv gewendet werden. Darin sehe ich derzeit die vordringlichste Aufgabe einer Kulturpolitik in Europa. Interview: Wolfgang Hippe