Shiva tanzt

■ Klassischer indischer Tanz — Auftakt einer Veranstaltungsreihe im Rahmen der Indischen Festspiele 1991/92

Die schwarzen, schmalen Augen leuchten. Ein jugendlicher Jagdgott umtanzt seine Beute. Er prüft mit dem Finger die Schärfe des glänzenden Speers, schneidet sich, leckt das Blut ab, beginnt die Jagd. Er umkreist das imaginäre Tier, weicht zurück, sucht, zielt, trifft, durchbohrt es. Als er seine Beute getötet hat, schultert er sie, bricht fast zusammen unter der Last. Er wäscht sich Hände und Gesicht in klarem Wasser und tanzt seinen Freudentanz, Siegestanz, Göttertanz: Ausgelassene Sprünge, wirbelnde Wendungen und feine pantomimische Erzählkunst ergänzen sich zu spannendem Tanztheater.

Hamburg machte mit diesem Gastspiel des traditionellen Chhau- Tanzes den Anfang in einer Veranstaltungsreihe, die im Rahmen der Indischen Festspiele bis März eine Auswahl von Repräsentanten der wichtigsten Stile des klassischen indischen Tanzes auf Tournee durch deutsche Städte schickt. Während der englischen Kolonialzeit verfemt und verboten, ist der indische Tanz heute wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität Indiens. Das Aufblühen fast vergessener Tanzstile in den letzten Jahrzehnten ist Zeichen der Rückbesinnung auf eigene Traditionen.

Der Chhau-Festtanz, der in Indien beim zweiwöchigen Frühjahrsfest im April aufgeführt wird, kommt aus dem Nordwesten, den Bundesstaaten Bihar, Bengalen und Orissa. Er erzählt Geschichten aus dem indischen Alltag, Geschichten vom Jagen, der Liebe, dem Einbruch der Nacht. Von allen Tanzstilen steht der Chhau dem Volkstanz am nächsten.

Ganz anders Inhalt und Formensprache des Kathakali-Tanzes aus Kerala, dem äußersten Südwesten Indiens. Während die Tänzer beim Chhau ihre kraftvolle Vitalität zeigen, legen die Kathakali-Tänzer Wert auf perfekte Körperdisziplin. Hier Spontaneität, dort Stilisierung. In seinem schweren, prachtvollen Kostüm mit Kopfschmuck und dicker Schminke, die maskenartig in vielen Farben auf das Gesicht aufgetragen wird, kann der Kathakali- Tänzer sich nicht so frei bewegen wie der leichtbekleidete Tänzer des Chhau. So konzentriert er sich auf subtile Gestik und Mimik. Minutenlang bewegt er nur die Augenbrauen in rasender Schnelligkeit oder wendet die Augen ruckartig im Takt hin und her. Der Tänzer vermittelt religiöse Inhalte durch Hand- und Fußgesten, die genau festgelegten Symbolcharakter tragen. Kathakali soll von einem südindischen Maharadscha im 17.Jahrhundert aus verschiedenen Tänzen kreiert worden sein. Eine Tänzergruppe aus Trivandrum wird den Kathakali im November und Dezember vorstellen.

Es folgen im Februar und März verschiedene Truppen, die die Tanzstile Bharata Natyam, Odissi und Kuchipudi repräsentieren, die zu den klassischen Tempeltänzen gehören. Tempeltänzerinnen, Devadassis genannt, mußten früher nicht nur Göttern dienen, sondern auch männlichen Tempelbesuchern als Prostituierte. Der Tempeltanz geriet in Verruf, dann in Vergessenheit. Er wurde erst im 20.Jahrhundert wiederentdeckt, von seiner Funktion und damit auch seinem schlechten Ruf befreit. Der Gott Shiva, der auch den Beinamen Nataraja, König des Tanzes trägt, wird in Tempeln häufig als Tänzer abgebildet. So wie im Nataraja-Tempel aus dem 12.Jahrhundert in unzähligen Skulpturen dargestellt, werden Tanzformen heute häufig noch ausgeführt. Die Tänzerinnen tragen Seidensaris mit kunstvoll eingewebten Ornamenten aus Silber- und Goldfäden, silberne Armreifen. Den Haarknoten schmücken duftende Jasminblüten, die Augen werden mit Kajal intensiv schwarz umrandet. Bewegungsabläufe sind fließender als beim männlich-kräftigen Chhau. Hand- und Fingergesten erzählen vom Schicksal der Götter des Ramayans oder der Mahabharata. Rechts neben dem Mund gegeneinandergespreizte Hände stellen zum Beispiel Krishna dar, den flötenspielenden Gott der Liebe. Er beschwört mit seiner Flöte eine Kobra, deren Schlangenkopf ein Tänzer mit erhobenen, halbkugelförmig zusammengelegten Händen symbolisiert.

Zurück zum Chhau, zum letzten Tanz des Premierenabends, zum Tanz von der Tötung des Dämonen Mahisha. Es treten Fiuguren aus dem indischen Pantheon auf: Ganesha, der elefantenköpfige Glücksgott, mit rosafarbener Elefantenrüsselmaske und großem, grinsendem Mecki- Mund, der blaugesichtige Bösewicht Mahisha und die Rachegöttin Durga mit orangenen Papparmen. Trommler steigern den treibenden Rhythmus und ziehen das Publikum in den Bann des schneller und schneller werdenden Tanzes. Wer Indien kennt, sieht jetzt vor sich die quirlige Menge eines indischen Volksfestes, die Masken der Tänzer, die Pracht der Kostüme, geschmückte Elefanten, vorbeiziehende Musikergruppen, die die Menge mit den ganzen Tag währenden, unablässigen Rhythmen aufheizen. Er riecht den Gewürzduft des nahen Marktes und die Schweißnässe der Zuschauer in der sengenden Hitze des Tages, hört den nicht enden wollenden Lärm der Straßen sich mit der Musik vermischen.

Gerade bei dem unmittelbaren, Geschichten erzählenden Volksfesttanz reißt die einfache schwarze Kulisse den Tanz aus dem Zusammenhang. Mit einigen Dias oder einem kurzen Film vorab wäre vieles leichter verständlich.

Unter den Indern im Publikum deuten Kleidungsstile Lebensformen an: ein Seidensari, Jeans, ein traditioneller Sikh-Turban zum westlichen Anzug getragen, ein modischer Sari aus Nylon. Bei deutschen Besuchern sind hier und da bunte indische Seidentücher zu sehen, schwere Silberarmreifen, ein indischer Nasenring, auf den Knien Bücher über Tanz und Kultur. Uta von Arnim

Chhau Nritya: 25.11. Gießen, 26.11. Bad Cannstatt

Kathakali: 23.11. Heidelberg, 26.11. Bayreuth, 28.11. Hannover, 30.11. Darmstadt, 1.12. Nürnberg, 3.12. Hamburg, 6./7.12. Berlin.