Ein Stiefkind der Küste

Im ostfriesischen Wilhelmshaven geht der Pleitegeier um: Ende 1992 will Daimler-Benz das Olympia-Schreibmaschinen-Werk schließen. Damit stehen 2.700 Menschen auf der Straße, und das in einer Region, in der es ohnehin an Arbeitsplätzen mangelt. Die Geschichte einer westdeutschen Abwicklung.  ■ VON MARKUS DASCHNER

Manchmal kommt Arno Fuchs (36) noch ins Träumen. Dann wünscht er sich, daß sein Sohn Fußballprofi beim 1. FC Köln wird. Oder, wenn das nicht klappt, Olympianer. Arnos Vater hat in dem Wilhelmshavener Schreibmaschinenwerk schon 30 Jahre gearbeitet, Arno selbst hat hier 1971 eine Lehre als Feinmechaniker angefangen, Arnos Frau arbeitet hier, und hier wäre auch für den Jungen noch eine Zukunft gewesen.

Dann geht ein Ruck durch Arno Fuchs, seine Hand wischt in der Luft die Träume weg, die er eben noch gesponnen hat. Es wird wohl alles nichts. Die neue Geschäftsführung, den die AEG-Mutter in Frankfurt Ende Oktober nach Wilhelmshaven geschickt hat, soll die Schließung des Olympia-Werkes abwickeln: „Die Abdecker“ heißen die AEG-Manager Volker Klein-Abenshausen und Herbert Kohlmann in der Belegschaft. Ende 1992 sollen in der Wilhelmshavener Schreibmaschinenproduktion die Lichter aus gehen, die AEG will sich aus der Bürokommunikation zurückziehen: 150 Millionen Miese 1990, in diesem Jahr werden Verluste in der gleichen Größenordnung erwartet. AEG-Chef Ernst- Georg Stöckl hat den Aufsichtsrat am 25. Oktober schon über die Schließung informiert. Wenn das Werk „abgewickelt“ ist, stehen in der Region um die Jadestadt Wilhelmshaven 2.700 Menschen auf der Straße.

Olympianer sein, das ist etwas. Arno Fuchs hat eine kleine Karriere vom Gesellen zum Vorarbeiter gemacht. Jetzt sitzt er in der SMD-Bestückung in Halle 12 des Werkes. Er kontrolliert eine computergesteuerte Fertigungsstraße, in der integrierte Schaltkreise, Widerstände und Kondensatoren mit einer Lötpaste auf Platinen „geklebt“ werden. Das Verfahren ist eine Werksentwicklung, auf die die Olympianer stolz sind. Die Straße ist erst im letzten Jahr für 15 Millionen D-Mark in diese Halle umgezogen. Alles in den Wind?

Vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich nicht. Die Olympianer versuchen verzweifelt, „ihr“ Werk zu retten. Genug Wut haben sie, denn noch 1988 hat ihnen der damalige AEG-Chef Heinz Dürr eine Standortgarantie für Wilhelmshaven gegeben, „das kann man doch jetzt nicht einfach alles vergessen“, ereifert sich Betriebsrat Peter Naujokat.

Besonders empört sind die Olympianer über die Rolle der Daimler- Benz AG bei der Schließung des Schreibmaschinenwerkes. Daimler hatte 1986 die ganze AEG gekauft und damit auch Olympia. Ihr Vorstandsvorsitzender Edzard Reuter war es, der noch im September diesen Jahres die Pläne der niedersächsischen Regierung ablehnte, die Mehrheitsaktien von Olympia zu übernehmen und damit den Standort zu retten. Und es war ebenfalls Reuter, der einen Tag vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung der AEG am 25. Oktober in Frankfurt das Ende des Wilhelmshavener Werkes verkündet hatte. „Die könnten uns zwar retten, die wollen aber nicht“, vermutet der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Ronald Smolawa.

„Olympia war hier das Leben“

„Ein Mann muß einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen und ein Haus bauen.“ Arno Fuchs findet diesen Satz zwar auch „irgendwie komisch“, hat ihn aber in seinem Leben verwirklicht. Bei Olympia ging das. Zwei Kinder hat er, und ein Haus mit Garten etwas außerhalb von Wilhelmshaven, in Horsten, Gemeinde Friedeburg. Es ist es noch nicht bezahlt, sein „Lebenswerk“... Ob er verkaufen muß, wenn Olympia schließt? „Wer kauft denn hier ein Haus“, fragt er zurück. Olympia war in der Region das Leben, und wenn Olympia stirbt...?

Daran mag zur Zeit in der Belegschaft keiner denken, und alle tun es doch. Als die neuen Geschäftsführer kamen, da hat die Belegschaft erst einmal für eine Stunde die Arbeit niedergelegt, um sich die beiden mal aus der Nähe anzusehen. „Die waren ganz klein und haben nur noch gestammelt“, schmunzelt Naujokat über die spontane Aktion. Selbstverständlich wurde die Stunde vom Lohn abgezogen.

Was soll's, auf eine mehr oder weniger kommt es nicht an. Die Olympianer haben da schon ganz andere Sachen gemacht. Fahren „mal eben“ mit 700 Leuten vor das Daimler-Verwaltungsgebäude in Stuttgart-Möhringen und organisieren dort eine ständige Mahnwache rund um die Uhr. Dann brausen sie im Autokonvoi mit 1.500 Leuten zu einer Blockade des Daimler-Werkes nach Bremen. „Und wir fangen gerade erst mal an“, verspricht der Betriebsratsvorsitzende Holger Ansmann. „Die Belegschaft wird nicht aufgeben.“

Wilhelmshaven ist ein Städtchen mit 91.000 Einwohnern. Ringsum liegt Friesland, nur im Norden ist Wasser: Die Jade, eine Ausbuchtung der Nordsee. Dort, wo heute die Stadt liegt, war vor 140 Jahren nichts. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hatte dem Herzog von Oldenburg das Stück Land abgekauft, um dort einen Hafen für seine Flotte zu bauen. Wilhelmshaven wurde das Resultat: Ein Stadt vom Reißbrett, geometrisch angelegt und ganz und gar abhängig von der Flotte. Geld konnte hier nur verdienen, wer irgend etwas an die Soldaten oder an die Flotte verkaufen konnte. Von hier startete 1900 das Marineexpeditionskorps nach China, um den Boxeraufstand niederzumetzeln, hier hielt Wilhem II. seine „Hunnenrede“. Markige Soldaten prägen das Bild der Stadt seit ihrer Geburt.

1945 ist diese Zeit jäh beendet. Die Engländer besetzen die Kaiserstadt. Nach Wilhelm hatte hier auch Hitler sein Flottenzentrum einquartieren und 300.000 Menschen ansiedeln wollen.

Hitlers Kriegsmarine geht, Olympia kommt

Die Kriegsmarine geht, sie ist geschlagen. Hinterläßt der Stadt gigantische Hallen und Gebäude. Was soll damit geschehen? Sie werden billig vermietet, zum Beispiel an die Orbis- Werke, die später dann den Namen eines ihrer Schreibmaschinenmodelle übernehmen, der Olympia.

Über Bielefeld finden die Orbis- Werke ihren Weg nach Wilhelmshaven und mieten dort vor den Toren der Stadt eine alte Marinehalle. 1948 beginnt die Produktion von Schreib- und Rechenmaschinen mit 323 Mitarbeitern. Der Weg führt steil nach oben. Bereits in den fünfziger Jahren entstehen um das Werk herum Häuser für die Werksangehörigen, 1952 arbeiten hier schon 4.300 Menschen. „Roffhausen“ wird der Ort später einmal heißen.

Den Gipfel ihres Ruhmes haben die Olympianer 1970 erreicht. Zu dieser Zeit arbeiten hier 13.000 Leute, in der Bundesrepublik insgesamt sind es bei 18.000 Olympianer. Alles sonnt sich im Schreibmaschinenboom: Sogar die Fußballer vom TSR Olympia Wilhelmshaen profitieren vom Firmenglanz und kicken seit 1969 munter mit in der Regionalliga-Nord. „Heute geht es uns wie dem Werk“, sagt der ehemalige Olympia-Torwart Uwe Reese. Die „erste“ spielt heute wieder in der Landesliga Niedersachsen-West. Was ist passiert?

Irgendwas bauen zwischen Fön und Rakete

„In den Siebzigern, als es uns noch gut ging, haben wir mit 13.000 Leuten 230.000 Schreibmaschinen gebaut. 1988, mit 2.700 Arbeitnehmern, waren es 468.000“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Holger Ansmann. Der revolutionäre Technologieschub in der Bürokommunikation hat die Belegschaft zusammenschmelzen lassen, der Konkurrenzdruck aus dem Fernen Osten und aus Amerika verursachte Marktverluste. Wenn man den Betriebsrat fragt, sind es im wesentlichen Fehler des Managments gewesen, die die Pleite produziert haben und die die Olympianer jetzt ausbaden müssen. „Wir haben hier Supersachen entwickelt“, schwärmt Peter Naujokat zum Beispiel von einem AEG-Micro-Processor, der in Wilhelmshaven entwickelt worden ist. Die Serienproduktion habe die AEG aber dann verkauft.

„Wir müssen AEG Produkte hier ins Werk holen, die uns wieder Auftrieb geben.“ Holger Ansmann trägt beispielsweise seit wenigen Tagen ein kleines, schwarzes Gerät mit sich herum, daß er immer dann auspackt, wenn über die Zukunft des Olympia- Werkes gesprochen wird. „Das ist ein Akku-Ladegerät, das die AEG entwickelt hat, und wir könnten es hier bauen. Vorraussetzung wäre aber, daß wir eine Standortgarantie über 1992 hinaus bekommen.“ So wie das Ladegerät, da sind sich die Olympianer sicher, könnten sie fast alles bauen. „In diesem riesigen Daimler-Benz-Konzern wird doch vom Fön bis zur Rakete alles gebaut, da muß doch auch was für uns dabei sein.“

Hinten in Halle 12 des Olympia- Werkes werden zur Zeit sogar Kaffeemaschinen produziert. „Bei soviel High Tech und Know-how“, sagt Betreibsrat Naujokat, „verkaufen sich die Kollegen natürlich unter Wert. Aber in dieser Situation sind wir über alles froh.“ Und dann zeigt er noch auf den Schandfleck des Werkes. Auf einer Holzpalette stehen Personal-Computer des taiwanischen Billigproduzenten Acer. Hier in Wilhelmshaven werden sie aus ihren Kartons genommen und zu AEG- PCs umetikettiert. Wie tief ist Olympia gesunken?

Vor dem Werkstor 1 der Schreibmachinenfabrik hängen an einem martialischen Balken drei Leichen. Der erste Tote ist das Werk selbst, der zweite Tote der Landkreis Friesland, und die dritte, die da im Wind baumelt, ist die Stadt Wilhelmshaven.

Wenn Olympia dichtgemacht wird, droht Wilhelmshaven eine Arbeitslosenquote zwischen 25 und 28 Prozent. Zwar wohnen „nur“ etwa 1.000 Olympianer direkt in der Stadt, doch es gibt andere Großbetriebe, die in der Vergangenheit in die Knie gegangen sind. Die Kammgarnspinnerei (KSW) mit 1.100 Beschäftigten: pleite. Die Mobil-Oil- Raffinerie mit 500 Beschäftigten: pleite. Erst in der letzten Woche mußten die Milchwerke Wilhelmshaven/Friesland mit einer fetten Subvention vor dem Konkurs gerettet werden: Eine Blitzaktion von Stadtverwaltung und dem niedersächsischen Wirtschaftminister Peter Fischer. 300 Arbeitsplätze gerettet?

Nur die Bundeswehr bleibt

Wilhelmshaven ist das Stiefkind der Küste. Mit dem Wirtschaftswunder kamen in den fünfziger Jahren die Soldaten zurück: Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik, und die Marinesoldaten hielten Einzug in „ihre“ Stadt. Noch heute sind hier 6.000 Soldaten stationiert, das Marine-Arsenal, das 1957 auf dem Gelände der kaiserlichen Marine-Werft aufgebaut wurde und für „Materialerhaltung“ zuständig ist, beschäftigt wieder 3.300 Menschen. Das Arsenal ist der größte Arbeitgeber der Bundeswehr in der ganzen Bundesrepublik. Die Truppenreduzierung der Bundeswehr bis 1994 macht einen Bogen um Wilhelmshaven: Hier sollen lediglich 400 Rekruten weniger stationiert werden.

Die Arbeitslosenquote liegt hier derzeit bei 14,3 Prozent, das liegt weit über dem Bundesdurchschnitt und wird wohl auch so bleiben. Denn die Wirtschaftspleiten ziehen die Stadt mit ins Grab: 1981 hatte die Stadt noch Gewerbesteuereinnahmen in Höhe von 81 Millionen D- Mark, 1990 sind es gerade noch 37 Millionen.

Wilhelmshaen setzt auf seinen Tiefseehafen. In den sechziger Jahren ist hier eine Fahrrinne gebaggert worden, die Schiffen mit bis zu 23 Metern Tiefgang die Zufahrt in den Hafen gewährleitstet. Im Hafen investieren, das wäre so etwas, aber woher das Geld nehmen. „Wir müssen uns totsparen, bevor wir gefördert werden“, sagt Wirtschaftsförderer Gernot Bentner. Die EG und der Bund haben die Stadt bislang abblitzen lassen. Und die Bundesbahn will erst einen Gleisanschluß bauen, wenn die Güter rollen.

„Ich bin eingefleischter Ostfriese, und ich will hier weiter leben“, sagt Arno Fuchs, der kein „Lizenzschwabe“ werden will, irgendwo auf Montage in Deutschland. „Man kann das hier doch nicht alles wegschmeißen wie eine leere Milchtüte.“