Hilfe für die Nach-Wende-Zeit

■ Der Theoretiker André Gorz versucht eine Selbstbesinnung für die verunsicherte Linke

In den letzten Jahren ist der französische Theoretiker André Gorz zum linken Klassiker avanciert. Die Modernisierer der SPD und der Gewerkschaften berufen sich auf ihn ebenso wie Teile der Grünen. Seine Klassiker Abschied vom Proletariat (1980) und Wege ins Paradies (1983) haben ganze Generationen von Linken beeinflußt und verhalfen den neuen sozialen Bewegungen erstmals zu Ansätzen einer eigenständigen Gesellschaftstheorie. Im Wendejahr 1989, allerdings vor dem 9. November, erschien dann das umfängliche Grundlagenwerk Kritik der ökonomischen Vernunft, in dem Gorz seine Theorie vom Ende der Dominanz der Arbeitsgesellschaft ausformuliert hat und der Linken die Emanzipationspotentiale der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften vor Augen führt. Diese liegen nicht in der Enteignung und Verstaatlichung des Kapitals oder in der Abschaffung des Marktes als Prinzip ökonomischer Regulierung, wie die traditionellen Sozialisten immer meinten, sondern in der immer weiteren Zurückdrängung des von der „ökonomischen Rationalität“ beherrschten Sektors der Erwerbsarbeit zugunsten selbstbestimmter, freier Tätigkeiten außerhalb der Erwerbstätigkeit, nur „um ihrer selbst willen“.

Erreicht werden sollte das vor allem durch eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit, denn nur jenseits dieses „Reichs der Notwendigkeiten“, wie Marx das nennt, fängt das „Reich der Freiheit“ an. Der Ansatz zur menschlichen Emanzipation liegt, so Gorz, nicht in der „Arbeitswelt“, sondern in der „Lebenswelt“ der Menschen. Ziel der sozialen Bewegungen muß deshalb sein, allen Menschen gleichermaßen derartige Freiräume zu erkämpfen.

Gorz ist nach eigener Aussage Marxist. Aber die Realsozialisten mit ihrer Fixierung auf Produktion, Wachstum und Staat konnten sich nie auf ihn berufen. Denn die Schriften des Franzosen kreisten immer um die zentrale Frage der Freiheit — einer Freiheit, die immer auch die bürgerlichen Freiheiten enthält, aber im Sinne einer möglichst weitgehenden Befreiung von sozialen Zwängen weit darüber hinausgeht.

Insofern ist es nicht weiter erstaunlich, daß Gorz in seinem neuesten Buch Und jetzt wohin? sich nicht weiter beim Zusammenbruch des Realsozialismus aufhält, obwohl die Schrift offensichtlich als Antwort auf die weitverbreitete Verunsicherung der Linken in der Nach-Wende-Zeit konzipiert ist. Den Part, diese Verunsicherung zu formulieren und zu thematisieren, hat Otto Kallscheuer übernommen, der den Band zusammengestellt hat. Wer die bisherigen Schriften von Gorz kennt, wird in dem Band wenig neue Aspekte finden. Nur an einigen Punkten enthält er Präzisierungen, die ihm angesichts der verbreiteten Begriffsverwirrung notwendig erscheinen.

Gorz hält, im Gegensatz zu seinem Co-Autor, am Begriff Sozialismus fest. „Der Sozialismus ist tot, sofern er sich als System begreift“, schreibt Gorz und definiert ihn als Hegemonie des der freien Entscheidung der Individuen zugänglichen Lebensweltlichen über das den Notwendigkeiten unterworfene Ökonomische. Das gesellschaftliche jenseits des ökonomisch Notwendigen entsteht als freie Übereinkunft der Menschen untereinander. In diesem Sinne kommt es Gorz darauf an, das Primat des Gesellschaftlichen wie der Ökologie, gegenüber der Ökonomie durchzusetzen. Diese hat dann die Funktion, möglichst effektiv und natürlich bei humanen Arbeitsbedingungen die notwendigen Dinge des Lebens bereitzustellen. Sein neues Buch zielt, wie die früheren, auf eine freiheitliche, „rot-grüne“ Politik. Er plädiert für ein Zusammengehen von alten und neuen sozialen Bewegungen bei der Überwindung der „Arbeitsgesellschaft“. Die Notwendigkeit dafür hat sich durch den Zusammenbruch des Realsozialismus nicht verändert, sondern auf Grund der zugespitzten sozialen Frage verstärkt. Martin Kempe

André Gorz, Und jetzt wohin? Rotbuch-Verlag, Berlin 1991, 214 Seiten, 16 D-Mark.