INTERVIEW: Patriotismus braucht keinen Feind
■ Petr Pithart ist seit 1990 Ministerpräsident der Tschechischen Republik
taz: In Jugoslawien, der Sowjetunion und auch in der Slowakei erlebt Europa eine unerwartete Phase der „nationalen Wiedergeburt“. Eine Ausnahme scheint da allein die Tschechische Republik zu machen. Gibt es keinen tschechischen Nationalismus?
Petr Pithart: Die Tschechen haben sich bereits ausgetobt. Vor 100 bis 140 Jahren zeigten sie eine ähnliche nationale Begeisterung wie nun die Slowaken. Da jedoch die politischen Träume und Visionen der Tschechen in diesem Jahrhundert gleich zweimal maximal und unerwartet erfüllt wurden, gibt es heute keinen tschechischen Nationalismus mehr. Zum ersten Mal geschah dies 1918, bei der Gründung der Tschechoslowakei. Niemand erwartete, daß die Republik in den damals festgelegten, überaus großzügigen Grenzen entstehen könnte. Zum zweiten Mal dann, und dies war folgenschwerer, 1945 durch die Aussiedlung der Sudetendeutschen. Dadurch wurde unsere Bevölkerung homogenisiert und der geheime Haß vieler Bürger befriedigt.
Wären nicht die derzeitigen Auseinandersetzungen mit den Slowaken, wüßten wir oft gar nicht, daß wir eine Nation sind. Ich denke aber, das dies nicht allzu tragisch ist. Neben dem Nationalismus gibt es eine Reihe weiterer Stufen der Loyalität gegenüber dem eigenen Land. So etwas wie Heimat-, Vaterlandsliebe. All das, was ich geschrieben habe, hat das Ziel, diese Loyalität wachzurufen. Das beginnt damit, daß eine Beziehung zu den Orten, an denen man lebt, zu Dörfern, Gemeinden, Regionen entstehen muß. Diese Loyalität soll sich schließlich auf das ganze Land ausdehnen. Aber: Jeder Versuch, sie auf die Schnelle hervorzurufen, ist sehr gefährlich, denn er führt direkt zu Nationalismus und Chauvinismus. Ein entwurzelter Mensch wird sehr viel schneller zum Nationalisten als einer, der eine Heimat hat.
Möchten Sie also Nationalismus durch Patriotismus ersetzen?
Patriotismus ist eine kultiviertere Form der Loyalität zum eigenen Land. Eine Form, die keine Feinde braucht, so wie der Nationalismus. Der Patriotismus genügt sich selbst. Er umfaßt die Liebe zur engeren Heimat ebenso wie zum ganzen Land. Eines allein reicht nicht aus.
Beim Lesen Ihrer historischen und politischen Essays bekam ich jedoch den Eindruck, daß Sie Ihrer Heimat und der tschechischen Bevölkerung ausgesprochen kritisch gegenüberstehen.
So wie Eltern, die ihre Kinder lieben, diese dennoch oft streng behandeln, so muß auch die Liebe zur Nation von Kritik und Selbstkritik getragen sein. Gleichgültigkeit würde dazu führen, daß man alles verzeiht. Auch Masaryk (erster Präsident der Tschechoslowakei, Anmerk. d. Red.) war gegenüber der tschechischen Nation sehr streng, er sagte ihr schreckliche Wahrheiten. Trotzdem war er ein überzeugter Tscheche. Gleichzeitig aber auch ein Tschechoslowakist, ein Europäer.
Liegt ein weiterer Grund für das Fehlen des tschechischen Nationalismus nicht darin, daß er durch den „Tschechoslowakismus“ ersetzt wurde?
Ursprünglich war der Tschechoslowakismus eine künstliche Konstruktion Masaryks. Er wußte, daß es in der neu entstandenen Tschechoslowakei mit ihren vielen Nationalitäten eine „Mehrheitsnation“ geben mußte. Doch Masaryk ging es sicher um mehr, als um diese reine Zweckverbindung. Die tschechoslowakische Nation könnte daher auch als politische Nation verstanden werden. Eine Nation, die das „bürgerliche Prinzip“, das, was über dem „rein Tschechischen“ oder „rein Slowakischen“ steht, betont. Aber das war eine utopische Vision. Selbst heute sind wir zu dieser Art des „Tschechoslowakismus“ nicht fähig. Der Fehler bestand in der Hartnäckigkeit, mit der tschechische Politiker bis zum letzten Augenblick, bis zum Ende der Republik 1938, versucht haben, den Slowaken den Tschechoslowakismus aufzuzwingen.
Heute existiert ein völlig unreflektierter, arroganter Tschechoslowakismus. Ohne Verständnis dafür, wie er auf den Partner, die Slowaken wirkt. Die Tschechen sagen, „ich fühle mich auch als Slowake“, aber sie fragen nicht, wie sich der Slowake fühlt. Die Slowakei hat 1.000 Jahre lang nicht zu Böhmen und Mähren gehört, die Slowaken lebten in einem anderen Staat, in einer anderen Kultur. Hier ist keine Identität zu finden. Es geht nicht, daß wir Tschechen den „Anschluß“ vollziehen.
In der derzeitigen Diskussion über die Zukunft der tschechoslowakischen Föderation spielt die Frage, ob ihre Republiken auf dem „bürgerlichen“ oder dem „nationalen“ Prinzip aufgebaut werden sollen, eine große Rolle. Der slowakische Ministerpräsident Jan Carnogursky betont die Bedeutung der Nation. Gleichzeitig ist er jedoch der Ansicht, daß beide Prinzipien sich miteinander vereinbaren lassen. Sie dagegen sehen vor allem die Unterschiede.
Tatsächlich müssen die Unterschiede nicht dramatisch sein. Es geht jedoch um eine Reihenfolge der Werte. Wenn wir vom bürgerlichen Prinzip sprechen, heißt das nicht, daß wir das nationale Prinzip negieren. Aber das bürgerliche muß dem nationalen stets übergeordnet sein. Ansonsten entstehen unlösbare, traditionell mitteleuropäische Probleme. Ich verstehe nicht, warum Herr Carnogursky behauptet, daß es diesen Streit nicht gibt. Wenn das der Fall wäre, dann hätten wir uns schon vor langer Zeit auf eine bundesstaatliche Verfassung der CSFR einigen können. Das ist meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit für eine staatsrechtliche Ordnung in Mitteleuropa. Die Slowakei lehnt ein drittes oder viertes Bundesland aber ab, da in diesem Fall der Staat nicht mehr auf dem nationalen Prinzip gegründet sein könnte. Denn es gibt keine dritte Nation in der CSFR. Mähren und Schlesien, das sind Ethnika. Daß die Slowakei die bundesstaatliche Lösung ablehnt, ist für mich zwar kein direkter Beweis, doch ein Hinweis darauf, daß das nationale Prinzip dort an die erste Stelle gesetzt wird.
Entscheidend wird jedoch sein, ob eine Föderation von Republiken, in der jede „ihr“ Prinzip betont, möglich ist.
Eine solche Föderation kann ich mir nur schwer vorstellen. Besonders dann, wenn diese Föderation wie in der Tschechoslowakei lediglich von zwei Subjekten gebildet wird. Das würde doch zum Beispiel bedeuten, daß die Parlamentsabgeordneten der einen Nation die der anderen nicht überstimmen dürfen. Wenn sie diesen Grundsatz uneingeschränkt verwirklichen wollten, wird das Parlament blockiert.
Ihre Regierung bemüht sich, die Regionen an den Grenzen zu Deutschland, Polen und Österreich wiederzubeleben. Sehen Sie die Zukunft Europas als ein Europa der Regionen oder der Nationen?
Ich denke, daß es ein Europa der Regionen sein wird, und das hoffe ich auch. Interessant sind gerade diese Grenzbereiche. Bei einer Gesellschaft, die sich aus unterschiedlichen Rassen, verschiedenen Nationen zusammensetzt, werden die Ergebisse ihres kulturellen und ökonomischen Handelns stets besser sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist Prag, einst eine Stadt mit drei Kulturen: der deutschen, der jüdischen und der tschechischen. Oder auch Kosice in der Ostslowakei, eine kosmopolitische Stadt. Daher gibt es dort soviel Toleranz, soviel Ablehnung des Nationalismus. Das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls in den Grenzregionen ist aber auch wichtig, weil gerade dort an der Grenze immer Konflikte, Kriege begannen.
Ich denke natürlich nicht, daß die Region ein Ersatz für die Nation ist. Aber wichtig ist, daß der blutige Ernst, der mit dem Begriff der „Nation“ verbunden ist, überwunden werden kann. Daß die Beziehung zur Nation zu einem von vielen Werten wird. Daß sie zu einer der Möglichkeiten wird, sich selbst zu verstehen. Einer, nicht der wichtigsten. Durch die Regionen wird das nationale Prinzip relativiert. Und dann wird Europa vielleicht endlich zum Kontinent des Friedens. Europa ist Vielfalt. Die Homogenisierung Europas bedeutet den Verlust Europas. Interview: Sabine Herre, Prag
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