Der apostolische Nuntius

■ Vor aufgesperrten Mäulern in der Weserburg: Obertonsänger Michael Vetter

Die frechsten Schandmäuler versenkt er in Andacht, und dahergelaufene Abenddiebe lauschen fromm: Wo Michael Vetter den Mund auftut, herrscht sogleich der Friede einer sonderbaren Liturgie: Da hören wir wunderleichte Töne schweben, wie aufgeworfen von einer warmen Männerstimme tief unten; es klingt nach hellen Orgelpfeifen und schlängelt sich himmelhoch über dem Baß, und kommt doch alles aus einer Kehle. Michael Vetter, Obertonsänger, hat in zehn Jahren als Zen-Mönch in Japan seine Technik ausreifen lassen. Am Sonntag sang er im völlig überfüllten Spitzdachsaal der Weserburg, und nicht einmal das Mucksmäuschen regte sich.

Dabei sitzt er nur milden Blicks wie der kleine dicke Engel der Bekümmernis, aber sein Sing und Sang strömt dahin und ist ein einziger langer Ton, den Vetter formt und formt: er sägt, muß man sagen, und schleift ihn mit tausenderlei Konsonanten und moduliert ihn mit Lippenschmeicheleien zu unerhörten Worten; und trägt ihn durch gregorianische und pentatonische Skalen; dann plötzlich pfeifen wieder Obertöne drein und fangen an zu zwitschern, und physikalisch ist alles ganz einfach.

Wo gesungen wird, fallen Obertöne. Sie reiten quasi auf den tiefen Schallwellen und unterteilen sie im Verhältnis ganzzahliger Brüche. Die Kunst besteht darin, sie, die sonst nur an der Klangfarbe mitmischen, zu eigenen Oberstimmen zu verstärken. Gestandene Obertonsänger haben ihr Kehlchen regelrecht zu einem akustischen Prisma ausgebildet, welches den profanen Ton in Regenbögen zerlegt.

Daraus macht der kunstreiche Vetter, unter grenzenlosem Körpereinsatz selbst noch der Nasennebenhöhlen, einen Sound von geradezu kinetischer Qualität: Er wispert und betört und gluckst und und mobilisiert derart ein wahres Tanztheater der Klänge; und wie über den Wassern schweben die Obertöne. Hienieden aber hockt würdevoll Vetter, der Apostolische Nuntius ihres Sounds.

Solche Musik neigt, weil über dem Grundton die Reihe der Obertöne je feststeht, an sich schon zum Minimalismus, zum Durchlaufen selbstähnlicher Schleifen. Daß aber auf gewaltig wenig Noten so ein Gesang beruhen kann, liegt womöglich an einem starken Sehnen: Es möchte, wenn schon sonst nichts, so doch wenigstens die Singstimme unbeschwert aufsteigen in excelsis, in die Höhe. schak