Weder Rechthaberei noch Selbstmitleid

■ Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse will ein Tribunal zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit initiieren. Gegenüber der vehementen Kritik aus dem Westen wirbt er für Verständnis.

taz: Herr Thierse, die Idee zu einem Tribunal über die DDR-Vergangenheit ist von der Öffentlichkeit begierig aufgenommen und zugleich scharf kritisiert worden. Dabei stehen doch die Chancen, in der ehemaligen DDR einen Prozeß der selbstkritischen Erinnerung in Gang zu setzen, ohnehin eher schlecht. Nimmt man die vergangenen zwei Jahre, dann scheint kollektive Verdrängung das Bedürfnis nach Aufarbeitung deutlich zu dominieren.

Wolfgang Thierse: Mit Sicherheit wird es diese Intention nicht leicht haben, aber man muß die realistischen Alternativen sehen, um denoch an der Idee festzuhalten. Erstens, es wird ein paar Strafprozesse gegen einige exponierte Täter mit unbefriedigendem Ausgang geben, weil rechtsstaatliche Strafjustiz nur individuell zurechenbare und bewiesene Schuld verurteilen kann. Die Reaktion auf solche Prozesse wird eine doppelt zwiespältige sein: Unzufriedenheit und Entlastung zugleich. Das zweite ist die Vermarktung der DDR-Geschichte zu Skandalgeschichten, bei denen man auf so angenehm gruselige Weise vergessen kann, daß man auf höchst unterschiedliche Weise selbst einen Beitrag zur Funktion dieses Systems geleistet hat. Das ist das Angebot zur massiven Verdrängung. Die dritte Alternative ist auch realistisch. Ab Januar, nach Inkrafttreten des Stasi- Unterlagen-Gesetzes werden viele aus ihren Akten erfahren, daß diejenigen, die am Scheitern ihrer Biographien, an Mißerfolgen und an Niederlagen Schuld sind, nicht irgendwelche fernen dämonischen Bösewichter sind, sondern Nachbarn, Freunde und Verwandte. Dieses Erschrecken wird hoffentlich nicht nur Rachegefühle und Verzweiflung auslösen, sondern vor allem ein Bedürfnis, zu verstehen, warum Leute, die so sind, wie ich selbst, Denunzianten geworden sind. Die Art von Fragen, die da entstehen, ist die eigentliche Basis dafür, daß wir vielleicht doch eine Chance haben, selbstkritisch fragend mit unserer Vergangenheit umzugehen.

Bislang gibt es zwar noch nicht den Zugang zu den Akten, aber doch genügend Informationen, damit dieser Prozeß hätte in Gang kommen können. Außer bei Bürgerrechtlern jedoch scheint das Interesse am öffentlichen Gespräch über die eigenen Verstrickungen nicht sehr ausgeprägt.

Die Gesprächsfähigkeit gehört in der Tat nicht zu den herausragenden Tugenden der ehemaligen DDR- Bürger. Das System hat die Menschen ja gesprächsunfähig gemacht. Das Schweigen, das kryptische Reden, das verstümmelte Reden, das Reden in der Sklavensprache war das Übliche. Auch darin liegt ja etwas Gefährliches, daß unglückliche Tradition jetzt im Beschweigen der Vergangenheit fortgesetzt wird. Ich glaube aber, daß es nach dem 1.Januar ein massenhaft individuelles Bedürfnis sein wird und daß wir schon jetzt über Formen nachdenken müssen, wie überhaupt darüber geredet werden kann. Noch der spektakuläre Vorgang zwischen Wolf Biermann und Sascha Anderson ist ja ein verquerer Versuch, ein Gespräch über etwas bisher Verdrängtes zu erzwingen. Wir sollten das nicht nur den Zufälligkeiten einzelner Individuen überlassen, die ein Stein ins allzu stille Wasser werfen.

Das klingt alles sehr abwägend, eher nach kollektiver Selbsterfahrung als nach einem Prozeß, an dessen Ende Urteile gefällt werden. Der Begriff Tribunal jedoch, den Sie, Herr Ullmann, oder Herr Schorlemmer ins Spiel gebracht haben, weckt da ganz andere Assoziationen.

Man darf sich unter diesem Terminus Tribunal, den man mal aus dem Verkehr ziehen muß, wenn man ein passenderes Wort gefunden hat, keine Aburteilungsvorgänge vorstellen, das wäre gespenstisch. Das darf keine Show-Veranstaltung werden, auch keine Orgie der Rechthaberei, so wenig wie eine Orgie des Selbstmitleides. Das Stichwort Tribunal meint den Versuch, öffentliche, strenge Formen des Gesprächs zu finden über den elementaren Zusammenhang zwischen einem System und dem Verhalten der Menschen, die in unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten zum Funktionieren dieses Systems beigetragen haben. Ich denke, in dem Vorgang des strengen öffentlichen Gesprächs ist auch ein Angebot enthalten, allzu forsche, moralische Beurteilungen vom hohen Roß — sei es das hohe Roß des Opfers, sei es das ganz billige Urteil des westlichen Beobachters — zu relativieren und zu begreifen, daß es nur ganz wenige große Täter und nur ganz wenige Heilige gegeben hat. Die DDR war ein Geflecht von Verhaltensweisen, das in dem Zwischenraum der beiden Extreme existierte. Dennoch gibt es die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern.

Die Idee ist formuliert aus der Perspektive der Opposition, zugeschnitten auf die Bedürfnislage der Opfer. Was soll denn die Täter motivieren, sich an diesem Prozeß zu beteiligen?

Ich glaube nicht, daß es ganz viele ehemalige SED- und Stasi-Machthabende gibt, die sich auf so einen Prozeß einlassen. Denn die Bereitschaft setzt voraus, sich auf einen selbstkritischen Prozeß einzulassen und ein Verlangen, weiterleben zu wollen unter den Menschen, die man bisher beherrscht hat. Dieses zweite Motiv könnte vielleicht doch tragend werden. Ob ehemalige Stasi-Offiziere nicht nur anonym hier weiter leben wollen, so daß sie ertragen können, daß Menschen ihnen ins Gesicht sehen, das hängt auch davon ab, ob sie sich irgendwann einmal Gesprächen stellen, in denen sie die Chance haben, sich selbst zu erklären und zu verteidigen. Solche Gespräche können natürlich nicht so organisiert werden, daß man einem den Befehl gibt, zu kommen. Die Idee lebt von der Freiwilligkeit der Beteiligten.

Verschiedene westliche Kritiker haben darauf verwiesen, daß die Intention einer außerstaatlichen Urteilsinstanz auf eine Aushöhlung des Rechtsstaates hinauslaufe.

Also ich finde es scheußlich, wenn uns jetzt unterstellt wird, wir wollten den Rechtsstaat untergraben und SED-Methoden wiedereinführen. Die Idee des Tribunals zielt darauf ab, da, wo die strafrechtliche Bewältigung ihre Grenzen hat, zumindest moralische Bewertungen zu ermöglichen. Unsere Überzeugung ist es ja, daß zur Beurteilung der DDR nicht nur das positive Recht dieses Staates gehört, sondern daß wir auch zurückgreifen müssen auf die Menschenrechtskonvention, auf das vom Nürnberger Tribunal konstituierte internationale Menschenrecht, das die DDR ja immer deklamatorisch anerkannt hat. Die zweite Erinnerung war natürlich die an die Russell- Tribunale, also der Versuch, mit Prozessen fertig zu werden, die strafrechtlich nicht faßbar sind und von der Gesellschaft abgewehrt, ignoriert oder einseitig behandelt werden. Ich weiß natürich auch, daß die Erinnerung an diese Tribunale gerade in Westdeutschland sehr gemischte Gefühle hervorruft, weil es da einen moralischen Eifer gab, der Restgesellschaft den moralischen Zerrspiegel vorzuhalten.

Die vehementeste Kritik der Tribunalidee kommt aus dem Westen. Sehen Sie darin auch einen Ausdruck der generellen Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beiden Gesellschaften?

Die mehrheitliche Ablehnung kommt aus dem Westen. Sie spiegelt die Schwierigkeit, unsere Motive zu verstehen und sich auf sie einzulassen. Aber in der Ablehnung steckt auch ein Motiv, das ich für höchst respektabel halte, nämlich die skeptische Wahrnehmung der Schwierigkeiten und Fährnisse eines solchen Unterfangens. Das Irritierende ist, daß plötzlich nach '89 viele Leute, die bislang die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik sehr skeptisch beurteilt haben, heute sagen, daß nach '45 Großzügigkeit gewaltet habe, daß man den Verdrängungsmechanismen freien Lauf gelassen hat, das hätte seine menschliche Vernunft nicht nur für die Individuen gehabt, sondern sei auch ein notwendiges Moment des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft gewesen. Das ist schwer zu widerlegen.

Sie schlagen uns vor, macht's so wie wir, das ist ein Erfolgsrezept. Und noch in diesem wirklich gut gemeinten Vorschlag liegt etwas, was ich ein bißchen anstößig finde: wir machen das für euch.

Steckt in Ihrem Anspruch auf eigenständige Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit auch die Angst vor fremden Maßstäben? Könnte nicht umgekehrt gerade die relative westliche Distanz diesen Prozeß unterstützen?

In der Bewertung des Mauerschützenprozesses kann man viel lernen über die Maßstäbe. Mich ärgern die leichten flotten Urteile Westdeutscher Liberaler, die sagen, das sind doch Täter und Opfer zugleich, wie soll man da urteilen. Ich finde das hoch respektabel, wenn es dazu führt daß sich die Westdeutschen in ihrem Urteil etwas zurückhalten. Aber ihr Westdeutschen seit nicht die Vergleichsgröße zu den Mauerschützen. Es gibt nur eine Vergleichsgröße und das ist der Wehrdienstverweigerer- Ost, derjenige, der sich geweigert hat zu den Grenztruppen zu gehen und auf Flüchtige zu schießen. An diesem Fall wird deutlich, daß es bestimmte Bewertungsmaßstäbe nur geben kann im Gespräch unter uns, weil wir aus der gleichen Realität kommen und die Bedingtheiten unserer Entscheidungen genau kennen. Auch das ist ein Grund, zu sagen, wir müssen das unter uns ausmachen, auch wenn wir der Hilfe von außen bedürfen, damit wir nicht zu borniert, zu rachebedürftig, zu emotional werden.

Das Tribunal fordert eine moralische Perspektive auf die DDR-Vergangenheit, während der Rechtsstaat lediglich die strafrechtliche Abarbeitung anbieten kann. Im Westen löst der Anspruch einer moralischen Aufarbeitung eher Verlegenheit aus.

Positiv oder negativ, man kann das zwiespältig bewerten, ist die Geschichte der Opposition in der DDR eine Geschichte vielfältiger, alltäglicher moralischer Entscheidungen. Gegen den politisch-ideologischen Überdruck hat sich der einzelne gewehrt durch eine Übermoralisierung seines eigenen Verhaltens. Man konnte sich in der Waage halten gegen diesen Staat nur durch eine Folge moralischer Entscheidungen. Ich mache die Erfahrung, daß westdeutsche Theoretiker, Psychologen, Politiker oder Theologen Gewissensentscheidungen ausschließlich für Ausnahmesituationen reservieren. In der ehemaligen DDR mußte man fast täglich Gewissensentscheidungen treffen. Wer aus der Position des Schwächeren argumentiert, kann niemals nur realpolitisch argumentieren. Er ist unausweichlich auf moralische Voraussetzungen von Politik verwiesen, von denen aus er dann argumentieren muß. Auch diese unterschiedliche Erfahrung spielt jetzt mit, daß wir sagen, es kann nicht sein, es muß schiefgehen, es verletzt auch unsere Realität, wenn man sie reduziert auf die strafrechtliche Abarbeitung.

Zu den derzeit beklemmendsten westlichen Befürchtungen gehört ein Tribunal, bei dem mit moralischem Rigorismus über die ehemaligen Täter geurteilt wird. Wie läßt sich Ihr Projekt vor solchen Tendenzen bewahren?

Das Tribunal ist auf keinen Fall gegen moralischen Rigorismus gefeit, und wenn man das will, oder verlangt, daß Emotionen keine Rolle spielen, daß die Anklage nicht vorkommen darf, dann will man das Ganze nicht. Es gibt nicht die Möglichkeit, Unrechtsgeschichte emotionslos, ohne moralische Aufwallung aufzuarbeiten, das würde eine Eiseskälte verlangen, die auch noch einmal den Opfern Unrecht tut. Also davor hätte ich keine Angst. Ich hätte Angst davor, wenn die Jury, auch das ein unbefriedigender Begriff, majorisiert würde von Eiferern, von Profis der Vergangenheitsbewältigung oder von Fanatikern. Es müssen Betroffene sein, aber auch Leute, die die Fähigkeit haben zu ruhiger Distanz. Aber emotionslos kann man so etwas nicht machen. Die Idee ist unablässig mit der Gefahr des Scheiterns verbunden, der Gefahr der Rechthaberei, der ungerechten Urteile, der Gefahr, daß es zum Ort von Rachefeldzügen wird, daß die Ostdeutschen da etwas machen, und die Westdeutschen die überheblichen Zuschauer sind, es ist verbunden mit der Gefahr, daß wir uns zerfleischen und die in sich ruhenden Westdeutschen zusehen und sagen, das kann doch nichts bringen. Also die realpolitische Weisheit auf der einen und die Hypermoralisierung auf der anderen, das sind Gefahren, die man nüchtern sehen muß. Dennoch, der Prozeß läuft, und deshalb denke ich, man soll das nicht aufhalten, sondern soll im vollem Bewußtsein seines möglichen Scheiterns die bescheidenen Versuche unternehmen und sich auch nicht durch allzu große Einwände aus dem Westen irritieren lassen.

Das Risiko einer weiteren Ost- West-Entfremdung ist also einkalkuliert?

Die Gefahr ist jetzt, durch die Veröffentlichung der Skandalgeschichte und durch die gängige Verkürzung der DDR-Vergangenheit auf Stasi-Geschichte, viel größer. Vielleicht gelingt es uns aber doch noch einmal, die einseitigen Maßstäbe infrage zu stellen, die jetzt vorherrschen, nämlich die Maßstäbe des Erfolgreichen, das ist der Westdeutsche und des Gescheiterten, das ist der Ostdeutsche.

Wie kann der Westen diesen Prozeß unterstützen?

Ich bitte um Verständnis für die Motive und die Lauterkeit unseres Anliegens. Ich wünsche mir von den Medien eine Leidenschaft der Differenzierung, gegenüber dem, was bei uns passiert, die Anstrengung gegen Schwarz-Weiß anzugehen. Ich wünsche mir die Lust, die DDR-Geschichte als einen, wenn auch verzerrten Spiegel der eigenen Geschichte zu begreifen. Die Frage ist, ob wir verurteilt sind, bundesdeutsche Geschichte im Zeitraffer zu wiederholen, oder ob in der Art, wie wir uns dieser Geschichte stellen, auch den Westdeutschen ermöglicht wird, einen Schritt in der eigenen Geschichtsverarbeitung zu gehen. Indem wir es anders machen, als die Westdeutschen nach '45, unbeholfen, streitig, ist darin auch ein Impuls für die Westdeutschen, sich mit dem Alltag von Opportunismus, Unterwerfung, Entmoralisierung von Politik noch einmal auseinanderzusetzen. Das könnte dann wirklich noch einmal zu einer gesamtdeutschen Sache werden.

Das Interview führte

Matthias Geis