Italiens neue Mafia auf dem Weg zur Legalität

Offiziell geht der italienische Staat mit immer größerer Härte gegen die Mafia vor/ Der rigorose Kurs verdeckt jedoch den unbehelligten Aufstieg einer neuen Generation, die dabei ist, die italienischen und europäischen Finanzmärkte aufzurollen  ■ Aus Palermo Werner Raith

„Hat der Mann Kreide gefressen?“ fragt verwundert 'la Repubblica‘; 'L'Espresso‘ registriert eine „Totalwende“, und der Mailänder 'Corriere della sera‘ entdeckt „Qualitäten, die man diesem Jung-Minister nicht zugetraut hätte“.

Die Rede ist von Claudio Martelli, 44, stellvertretender Ministerpräsident Italiens seit 1989 und Justizminister seit Frühjahr 1991. Sein Wahlbezirk ist Palermo, als Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei, und da heimste er mit massiver Hilfe mafioser Clans bei den letzten Parlamentswahlen 1987 einen mächtigen Erfolg ein — statt wie im nationalen Durchschnitt von elf auf 14 Prozent, kletterte seine Partei auf der Insel auf mehr als 18 Prozent, mit Spitzen von 25 und mehr in einzelnen Stadtteilen Palermos. Wahlplakate in mafiosen Bars am Corso dei mille, dem Reich der besonders brutalen Mafiafamilie Marchese, propagierten offen die Wahl des Sozialisten. Doch nun wandelt sich der kungelverdächtige Minister auf einmal vom Mafiophilen zu einer Art unversöhnlichem Sheriff, der mit allen verfügbaren Mitteln gegen die „Ehrenwerte Gesellschaft“ loszieht. Dazu scheut er auch nicht die Verständigung mit einstigen Erzfeinden: Im Frühjahr holte er mit Giovanni Falcone eben jenes Symbol des Antimafia-Kampfes in sein Ministerium, dessen „Pool“ aus Untersuchungsrichtern, Staatsanwälten und versierten Fahndern er vorher systematisch angegriffen und blockiert hatte. Der ehemalige Oberermittler leitet nun die Strafrechtsabteilung im Justizministerium.

Die unheimliche Allianz zwischen dem ehemaligen Mafia-Günstling und dem ehemaligen Mafia- Feind zeitigt derzeit allerlei Früchte: unerwartete zumeist, unerklärliche mitunter, immer jedoch spektakuläre. So gebärdet sich Minister Martelli geradezu als Mafiosi-Fresser, kann nicht genug Bosse im Kittchen sehen und paukt Nacht-und-Nebel- Dekrete durch, um fluchtverdächtige Capimafia am Abhauen zu hindern. Falcone wiederum jettet durch die Republik und drischt auf seine Ex-Kollegen ein, unbeschadet seiner früheren, oft geäußerten Erfahrung, daß ein Großteil der Justiz nur deshalb nicht funktioniert, weil die Behörden bis zu 80 Prozent unterbesetzt und in ihren Ausstattungen total veraltet sind.

Als vor zwei Wochen der wegen 99fachen Mordes verurteilte Mafia- Killer Pietro Vernengo ohne Behelligung aus einem Zivilkrankenhaus verschwand, geriet Justizminister Martelli in perfektem Einklang mit Falcone geradezu in ein Rundumschlag-Delirium: Der Richter, der die Einweisung in ein Hospital außerhalb des Gefängnisses bestätigt hatte, soll strafversetzt werden — wegen Nichtanwendung gültiger Normen, dazu eine Reihe seiner Kollegen in anderen sizilianischen Städten, die laut Martelli ebenfalls nicht beherzt genug zugreifen.

Und noch weiterer Zündstoff liegt bereit: Martelli und Falcone haben die Einrichtung einer zentralen Super-Generalstaatsanwaltschaft angekündigt und bereits vom Kabinett absegnen lassen. Damit soll die Arbeit der Ermittlungsbehörden in den besonders von organisierter Kriminalität heimgesuchten Regionen von einer „Super-Procura“ koordiniert werden.

Das aber bedeutet die Aufhebung der bisher auch für Untersuchungsrichter und Staatsanwälte geltenden richterlichen Unabhängigkeit. Seither sind die Amtsjuristen im ganzen Land in heftiger Unruhe und beraten Streikaktionen. Juristenverbände vermuten, daß Martelli mit seiner Umorganisation der Staatsanwaltschaften weniger die Mafia im Visier hat als die Anbindung der für Politiker oft recht unbequemen Justiz an die Politik: Die Super-Procura könnte durch ihre Weisungbefugnis unbequeme Verfahren blockieren.

Martelli und Falcone verweisen darauf, daß seit dem Beginn ihres harten Kurses Dutzende zu hohen Strafen verurteilter Mafiosi wieder hinter sicheren Gittern gelandet, andere gar nicht in den Genuß der vordem möglichen Vergünstigungen gekommen sind.

Das trifft zweifellos zu. Wie auch zutrifft, daß Martellis Kollege vom Innenministerium, der aus Neapel stammende Christdemokrat Enzo Scotti, in letzter Zeit deutlich verbesserte Fahndungserfolge vorweisen kann. Sein Koordinationsstab, der die drei oft gegeneinander arbeitenden Polizeiformationen Staatspolizei, Carabinieri und Finanzpolizei zur effizienten Arbeit bringen soll, zeitigt Nervosität unter den Kriminellen.

Als Beweis der neuen Entschlossenheit wenden seit einigen Wochen Polizei und Gerichte einen sonst kaum beachteten Paragraphen des Antimafia-Gesetzes von 1982 an, der den Einzug suspekter Güter vorsieht, wenn deren legale Herkunft nicht nachgewiesen wird. Grundstücke, Häuser und Lokale im Wert von gut 30 Millionen DM wurden alleine vorige Woche aus dem Eigentum von Mafiosi und Camorristen beschlagnahmt — ein Großteil davon in mittel- und oberitalienischen Städten, berühmte Nachtclubs wie „Jackie0.“ in Rom darunter.

Gesichtslose Yuppies ersetzen die finsteren Gestalten mit Ballonmütze

„Machen die diesmal wirklich ernst?“ fragte erstaunt die sonst eher Italien-skeptische Londoner 'Times‘. Wahrscheinlich. Die Frage ist nur, gegen wen sich der „Ernst“ richtet. Besieht man sich die nun wieder weggesperrten Mitglieder der „Onorata società“, so findet man faktisch nur Veteranen, Vertreter der alten Mafia, die sich ihre Reichtümer durch die Akquisition riesiger öffentlicher Bauaufträge und dann durch internationalen Drogen- und Waffenhandel verdiente, und die ihre Ziele vor allem mit der abgesägten Schrotflinte und, nach einer Modernisierung Ende der 70er Jahre, mit der Kalashnikow-Maschinenpistole oder Dynamit durchsetzte. Eine Mafia auf industriellem Niveau, sicherlich, aber nicht mehr die Mafia der Zukunft — auch wenn derzeit die Mafia-Kriege an der Oberfläche so viele Opfer provozieren wie nie zuvor. Mehr als 1.600 Morde zählen die Ermittler in den letzten anderthalb Jahren, mit einer Dunkelziffer von zusätzlichen 30 bis 40 Prozent, weil viele Leichen niemals gefunden und Vermißtenanzeigen nur selten gestellt werden.

Im Gegensatz zu diesen Oldtimern zeigen sich moderne Mafiosi eher schießunkundig, dafür aber um so versierter im Aktien- und Wertpapierrecht, der unentwirrbaren Verschachtelung von Unternehmen und der Steuerhinterziehung, dem Bank- und Börsengeschäft. Eher gesichtslose Yuppies denn finstere Gestalten mit Ballonmütze wie ehedem. Sie bewegen sich an den großen Finanzplätzen in New York und London, Frankfurt und Tokio ebenso unbemerkt, wie sie auf politischem und gesellschaftlichem Parkett mit der Attitüde des honorigen Selfmademan auftreten.

Der Schriftsteller Enzo Russo beschreibt das eindringlich in seinem in Kürze in Deutschland erscheinenden Roman Il quattordicesimo Zero (Ursinis großer Coup, Rowohlt): Die moderne Mafia koppelt sich ab von Sizilien, das sie kleinen Banden überantwortet, die durch heftige Schießereien viel Polizei binden. Sie internationalisiert sich und besetzt mit Zuarbeitern politische wie ideologische Schaltstellen, etwa Ministerien und Presse. Auf diese Weise werden die im Hintergrund arbeitenden Mafia-Nachrücker immer unsichtbarer und damit allmählich strafrechtlich ungreifbar.

Zum Entsetzen der nach Eigenansicht gegen schmutziges Einsteigergeld immunen Maklerzunft („So einer fiele sofort auf“, tönte der Chef der Mailänder Börse noch 1988) enthüllte beispielsweise die italienische Nationalbank bereits vor zwei Jahren, daß die Anlage-Spezialisten der Clans seit mehr als einem Jahrzehnt am Börsenzentrum in Mailand zugange sind. Neben stattlichen Aktienpaketen nationaler und multinationaler Trusts haben sie auch eine Unmenge staatlicher Schuldverschreibungen aufgekauft: Die Clans sind längst der größte Gläubiger des italienischen Staates und damit imstande, durch Finanzmanipulationen jede Regierung auszuhebeln.

Wenn ein bisher von den Auftraggebern entsetzt unter Verschluß gehaltener Bericht der Finanzpolizei für die Banca Nazionale und die EG- Finanzminister nicht täuscht, sind die Aufkäufer mittlerweile auch in allen anderen europäischen Ländern auf Tour und suchen sich auch dort in eine aussichtsreiche Startposition zur Erpressung der dortigen Regierungen zu bringen. Schlimmer noch: die Finanzhüter Italiens haben hochgerechnet, daß angesichts der gigantischen Ausgaben, die auf ausnahmslos alle Industriestaaten — einschließlich und insbesondere Deutschland — in den nächsten Jahren zukommen, „wohl kein Land mehr von der Versuchung verschont bleiben wird, beträchtliche Beträge der milliardenschweren Unterweltgruppen anzunehmen, um den Staatshaushalt zu finanzieren“.

Im Klartext: die „Ehrenwerten“ werden über kurz oder lang sogar die Bedingungen für die Legalisierung ihrer Kapitalien stellen können. Ein Vorgang wie im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, wo sowohl die Feudalherren wie das aufsteigende Bürgertum ihre maroden Staaten immer wieder durch Zuschüsse von Raubrittertum und illegalen Spekulanten konsolidieren mußten und dabei den Dunkelmännern immer mehr zu gesellschaftlicher Rehabilitation verhalfen.

Den neuen Mafiosi im Nadelstreifenanzug droht bisher denn auch kaum Gefahr, ins Kittchen einrücken zu müssen. Je mehr Spektakel Martelli in Sizilien mit seinen Dekreten, Verhaftungswellen und Versetzungsforderungen für dösige Richter veranstaltet, um so weniger Beachtung finden derzeit die zahlreichen Korruptionsaffären.

Für Falcone waren in den letzten zwei Jahren nahezu alle Ermittlungen zusammengebrochen. Reihenweise anullierte das römische Kassationsgericht auch in mehreren Instanzen bestätigte Urteile, meist weil die Oberrichter den Kronzeugen nicht trauen, die Falcone für seine Anklagen verwendet hatte.

Irgendwann wurde ihm wohl klar, daß er nur dann wenigstens ein kleines Stück seines Antimafia-Lebenswerkes retten kann, wenn er sich arrangiert: Martelli bietet ihm nun diese Chance, indem er die „alte Mafia“ sozusagen zum Abschuß freigibt. Die neue, die mit den überquellenden Scheckbüchern und der wohl schon in Personalunion mit der Politik lebenden Mafia, kann sich entfalten.