Fährten des Baubildungsbürgers

■ Ein Architekturführer hilft, Gebäuden in Berlin und Brandenburg auf die Schliche zu kommen

Man kommt ja oft genug in Verlegenheit, wenn man mit seinem Besuch aus den neuen und alten Bundesländern durch Berlin schlendert oder fährt (nachdem man sich als Bärenführer angeboten hat): auf die Frage, was denn das da nun wieder für ein Gebäude sei, weiß man leider selbst nicht immer Antwort. Wahrscheinlich hat man es irgendwann schon einmal gewußt oder gehört — wann und von wem gebaut, darüber kann man im entscheidenden Moment aber keine Auskunft geben.

Es geht aber nicht nur immer darum, vor dem Besuch so zu tun, als wüßte man in seiner Stadt Bescheid. Ihr baulich-räumliches Erscheinungsbild setzt sich nun mal aus Baustilen so verschiedener Epochen zusammen, daß selbst der Fachmann das eine oder andere mal geneigt beziehungsweise gezwungen ist nachzuschlagen. In diesem Falle hilft der schnöde Baedecker natürlich nicht und auch nicht der im Berlin-Info-Pavillon erstandene Prospekt. Für solche Fälle gibt es spezielle Architekturführer. Im Verlag Ernst und Sohn ist ein solches, dem Bau-Flaneur weiterhelfendes Hilfsmittel erschienen. Es paßt mit seinen 14 (vierzehn) Zentimetern Breite noch in die Jackettasche, die Arme hat man also noch frei, um rudernd zu zeigen, zu erklären und zu rauchen. Man kann natürlich auch ab und zu nachschlagen (so man gerade nicht raucht). Leider ist damit ein Dilemma benannt.

Man wird nämlich gar nicht so häufig fündig, wie man sich das wünscht. Auf den immerhin 250 Seiten nimmt Charlottenburg zum Beispiel nur 23 Katalognummern in Anspruch. Es wäre müßig, hier die Fehlstellen zu benennen oder diese aufzuwägen gegen Erwähntes — das macht keinen Sinn. Das Erwähnte selbst ist kurz und korrekt beschrieben, die Eckdaten, Architekten und Bauherren werden benannt. Was den Führer unnötig streckt und trotzdem nicht gerade ergiebig sein läßt, sind zwei Dinge. Erstens werden alle Texte zweisprachig gedruckt: englisch und deutsch. Das ist zwar löblich gedacht gegenüber unseren ausländischen Freunden, denen wir den Führer auch mal andrehen und sie allein losschicken — aber bei der Länge der Texte ist diese Zweisprachigkeit eben raumschluckend. Zweitens werden von den 350 Seiten allein 150 noch für Potsdam und Brandenburg gesamt vergeben, woran sich dieses Büchlein einfach total verschluckt, weil es zuviel auf einmal will. Da wären zwei Bände eher angemessen und vonnöten gewesen.

Hinzu kommt leider die Unbrauchbarkeit für den an moderner, d.i. zeitgenössischer Architektur Interessierten: Die Gebiete der Internationalen Bauausstellung werden — was unbedingt in einen neuen, modernen Architekturführer gehört — gar nicht extra ausgewiesen, für den Bezirk Tiergarten werden als Beispiele neueren Bauens das Stadtvillen-Viertel Rauchstrasse und das schnöde Öko-Haus benannt: hier werden auch die Texte etwas sehr anbiedernd an den absoluten Durchschnittsgeschmack. Auch die Auswahlkriterien bleiben bei diesem Führer völlig im dunkeln.

Ärgerlich wird dieser Sachverhalt der Fehlstellen auch in der südlichen Friedrichstadt: daß das Gebäude von olle Springer erwähnt wird, die Neubauten der letzten zehn Jahre zwischen Ritter-, Koch- und Wilhelmstrasse aber ausgeblendet bleiben, ist gar nicht einzusehen. Insgesamt tut dieses Büchlein so, als sei Berlin eigentlich eine Stadt, die bis in die zwanziger Jahre zugebaut war, seither wiederum nur die eine oder andere Baulücke zu schließen gewesen sei — ein wenig Barockes, dann viel Wilhelminisches, hier ein bißchen Jugendstil und zum Schluß ein Schluck klassische Moderne. Und nun?

Dabei ist die Gesamtaufteilung gar nicht schlecht und auch eher übersichtlich zu nennen. Nach einer kurzen Übersicht der Bauepochen: Mittelalter, Reformation und Absolutismus, Aufklärung und Restauration, Kaiserreich, zwanziger und dreißiger Jahre und Nach dem zweiten Weltkrieg werden die einzelnen Stadtteile oder besser: Stadtgebiete vorgestellt. Nach einer kurzen Einleitung folgt jeweils ein schematischer Plan des Gebietes, der der Orientierung dient. In diesen Plan eingetragen sind jeweils mit Zahlen die Standorte der dann beschriebenen Objekte. Halte ich mich also irgendwo zufällig auf und stehe vor einem mir unbekannten, aber irgendwie nach etwas aussehenden Gebäude, brauche ich nur in dem betreffenden Planquadrat nachzusehen, ob an dieser Stelle eine Ziffer eingetragen ist: meist eher nicht eingetragen ist. Und genau das ist schade. Aber weiter. Habe ich etwas gefunden, freue ich mich und lese die knappen Texte. Doch was ist das: unten auf fast jeder Spalte des Buches ist noch in halbfetter Schrift etwas geschrieben. Mitnichten aber etwa Anmerkungen zu oben Gelesenem, sondern leider nur ein Hinweis auf sich in der Nähe (nearby) befindliche Objekte meiner eventuellen Begierde zum Beispiel Schrotturm der Bleischmelze; Nöldnerstrasse 16, 1908. Alles klar? Nein? Kenn' ich auch nicht.

Wir werden also weiter auf den Architektur-Guide unserer Tage warten müssen. Und bei diesem potentiellen Unternehmen ist zu wünschen, daß gerade das Neuangebot an Architektur besser vertreten ist. In unseren Tagen suchen die Touristen vor allem das Neue. Martin Kieren

Berlin/Brandenburg. Ein Architekturführer/an Architectural Guide . Verlag Ernst und Sohn, Berlin 1990; hrsg. vom Institut für Städtebau und Architektur gemeinsam mit dem Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin.