Jesus sprüht höchstpersönlich die Graffiti-Sprüche

■ Der Marheineckeplatz in Kreuzberg ist so gut wie identisch mit seinem Markt/ Die Händler kennen ihre eigene Tradition nicht/ Ob Haushaltskittel oder Kohlenschaufeln, ob Schmuck oder Handschuhe, eingelegte Oliven oder Fisch, das Angebot in der Markthalle ist immer wieder erstaunlich

Kreuzberg. Kaum jemand sucht den Marheineckeplatz auf, um den Marheineckeplatz zu sehen. In der Markthalle einkaufen will man, die Telefonrechnung bezahlen, ein Konzert in der Passionskirche besuchen oder einen Kaffee im Lokus trinken. Der Platz wird gekreuzt oder passiert, zu einer kurzen Rast oder als Kinderspielplatz genutzt, nicht aber bewundert, bestaunt oder auch nur näher betrachtet. Sein kleinerer Nachbar, der Chamissoplatz hat dem Marheineckeplatz schon lange den Rang abgelaufen. Hierhin zieht es die Touristen, die gekommen sind, den Kreuzberger Kiez zu besichtigen; hier bleiben die Leute stehen, um die Randbebauung zu bewundern. Der Marheineckeplatz dagegen wird eher als Anhängsel der wesentlich berühmteren Markthalle gesehen.

Dabei steht selbige genaugenommen nicht an, sondern auf dem Platz, ist nichts weiter als ein überdachter Markt, der die westliche Hälfte des Platzes einimmt. Wo früher der Wind zwischen den Ständern durchpfiff, bescherte 1892 das breit gefächerte Hygieneprogramm des Magistrats Kunden und Händlern eine saubere und warme Halle. Diese wird heute gerne als eine der vier noch erhaltenen Berliner Markthallen (neben der Arminiushalle in Kreuzberg 36 und der Ackerhalle in Mitte) bezeichnet, obwohl es sich hier eigentlich um einen Neubau handelt. Denn abgesehen vom Eingangsbereich ist die Halle 1945 bei einem Bombenangriff vollständig zerstört und daraufhin 1953, nach historischem Vorbild, wieder neu aufgebaut worden. Dies ist vor allem den Marktleuten zu verdanken, die nach dem Krieg unverdrossen den Marktbetrieb im Keller der Halle weiterbetrieben und so lange stritten, bis sie den Wiederaufbau durchgesetzt hatten. Heute ist ein Besuch der Halle ein anregendes Erlebnis und der Werbeslogan »Alles unter einem Dach« keine leere Versprechung. Ob Haushaltskittel oder Kohlenschaufel, Schmuck oder Handschuhe, eingelegte Oliven oder Fisch — das Warenangebot ist immer wieder erstaunlich. Auch für Pausen eignet sich die Markthalle hervorragend. Im Stehen eine Tasse Kaffee trinken, den gerade erworbenen Hecht des Pausennachbarn bewundern, die nervige Oma belächeln, die Rot meint, wenn sie »Rot« sagt, und nicht »so grüne Dinger von Tomaten« haben will.

Manchmal jedoch lebt inmitten des bunten Markttreibens plötzlich eine Szene vor dem inneren Auge auf, ein Ereignis, das Jahrzehnte zurückliegt und kaum vorstellbar ist. Da fliegt eine Tür auf; ein Mann wird hereingestoßen und unter dem zustimmenden Gejohle der meisten Händler durch den Mittelgang getrieben. Einige Kunden protestieren leise, trauen sich aber nicht einzuschreiten. Der Mann blutet im Gesicht. Um den Hals trägt er ein Pappschild, darauf steht: »Saujude«. Der Mann hieß Carl Herz, der Vorfall ereignete sich am 10. März 1933. Herz war damals Bezirksbürgermeister von Kreuzberg, ein Sozialdemokrat, der in seinem Bezirk einige Achtung genoß. Daß die SA-Leute, nachdem sie Herz aus dem Rathaus gejagt hatten, ausgerechnet die Marheineckemarkthalle als Ort aussuchten, um Herz zu demütigen und zu quälen, war kein Zufall — die Halle hatte den Ruf, »braun« zu sein. Dreiviertel der Markthalle waren, so ein Augenzeuge und Markthändler, überzeugte Nationalsozialisten.

Die Suche nach alten Gesichtern bleibt erfolglos. Die Menschen hinter den Ständen sind zu jung, um dabei gewesen zu sein. Die Frage nach Carl Herz trifft überall auf Achselzucken. »Carl Herz? — Nee, nie jehört den Namen.« Der Zwischenfall ist offenbar nicht tradiert worden und keine Hinweistafel stört das Verdrängen und Vergessen. Wachgehalten werden sollte dagegen die Erinnerung an diverse Kreuzberger Originale, die mit bunten Farben an eine dem Platz zugewandte Außenmauer gepinselt waren: der Leierkastenmann, ein Kriegskrüppel, die Harfenjule, verkrüppelt von Geburt an sowie Zeit ihres Lebens bitterarm und verspottet, der Eiserne Gustav, der verzweifelt und erfolglos gegen die Automatisierung des Nahverkehrs kämpfte — hier kam im folkloristisch bunten Gewand daher, was eigentlich soziales Elend gewesen war. Mittlerweile ist dieses Stückchen »Kreuzberg soll schöner werden« verschwunden. Es mußte einem Gaststättenbau weichen. Daß das Lokal ausgerechnet »Gasthaus Dietrich Herz« heißt, ist übrigens reiner Zufall: Der Großvater des Besitzers war der Namensgeber. Der Brunnen hinter der Halle, fünf große Messingkannen, aus denen Wasser läuft, ist vorerst der Jahreszeit zum Opfer gefallen. Laub verstopft die Abläufe, und der Bezirk hat den Kannen das Wasser abgedreht. Die Kinder werden wohl noch einige Monate warten müssen, bis sie das Kunstwerk wieder zum Duschen nutzen können. Im Moment bleibt ihnen nur der Spielplatz, auf dem sie Lokomotivführer spielen und dabei Multikulti üben können. Ihre Eltern kommen dann am Abend zum Spielen. Im neu eröffneten mexikanischen Restaurant dürfen sie, ebenfalls in bewährt fröhlicher Multikulti-Mischung, mit Wachsmalkreiden die Tischdecken bunt malen.

Den Holzjesus über dem Altar der Passionskirche kratzt das alles herzlich wenig. Selbst den Soundcheck für das sündige Tangokonzert am Abend läßt er mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Man munkelt jedoch, daß er nachts manchmal von seinem Kreuz steigt, zur Farbspraydose greift und Bibelstellen an die Kirchenmauer sprüht. »Lukas 1,2« prangt neben dem Haupteingang. Bibelkundige können das Rätsel mit Hilfe der in der Kirche ausliegenden Bücher lösen. Unter Lukas 1,2 findet sich darin der Satz: »Die uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind.« Sonja Schock