PHON UND DEZIBEL

■ Essen und Trinken mit Musike oder Hunger und Durst in aller Stille

In Berlin zum Beispiel leben vier Millionen Leute, von denen ein hoher Prozentsatz teils hauptberuflich, teils nebenbei damit beschäftigt ist, vermeidbare Geräusche zu erzeugen. Besonders mit ihren Hi-Fi-Anlagen, mit ihren Autos, mit ihren Ghetto-Blastern und schließlich mit ihren Autos und den darin eingebauten Car-Audios. Soviel zur Melodie der Straße. Für ihre Höhepunkte (neudeutsch: Highlights) sorgen dann die yuppiemäßigen Cabriobesitzer, die mit 70 Sachen durch unsere verkehrsberuhigten Straßen röhren, die Kinder von der Fahrbahn hupen und den verstörten Anwohnern pathologisch zwanghaft mal zeigen müssen, was ihre Anlage an Phon und Dezibel hergibt. Sie nun sind die schärfsten Mutanten unserer High- Tech-Zivilisation, die viel Verhaltensähnlichkeit mit der Population der Lemminge aufweist.

In meiner zwischen zwei Höfen gelegenen Wohnung bekomme ich im Sommer frische Luft nur in Begleitung von Schallmüll ins Fenster. Mindestens vier verschiedene Radiosender kann ich tagsüber identifizieren, deren gemeinsamer Klang wie der Dauerschrei in den Hintern gekniffener Flöhe tönt; und über die nächtlichen Höfe wummern die dumpfen Programme sämtlicher Fernsehanstalten. Darauf angesprochene Nachbarn reagieren teils erschrocken über die eigene Gedankenlosigkeit, teils pampig und stur. Die Fenster der Sturen bleiben offen. Ich aber bin noch immer das alte Kamel, das seine Fenster schließt, wenn es Radio hören will. Derlei Prägungen sind wie das Leben: hart, aber ungerecht.

Vom Nachbarhaus trennt mich zwar eine dicke Brandmauer; dennoch werde ich gnadenlos zur Zeugenschaft aller handwerklichen Betätigungen im Nachbarhaus gezwungen. Und es herrscht dort eine heftige Mieterfluktuation.

Manchmal ist mir unterwegs nach einem kleinen Cappuccino. Vergnügt und vergeßlich steuere ich das nächste Café an und falle rückwärts wieder raus: Diskosound. Aber wo gibt es eine Alternative? Ent- oder weder Essen und Trinken mit Musike oder Hunger und Durst in aller Stille. Bitte ich das Bedienungspersonal, die Geräusche abzustellen oder leiser zu machen, blicken sie mich an, als sei ich der letzte Dinosaurier. Dazu gibt es die stereotype Antwort, das Publikum wünsche es so. Dann frage ich mich grübelnd, was ich wohl sei. Ach ja, hier Dinosaurier, zu Hause Kamel.

Nun ist es nicht so, daß ich Musik nicht mag, wie mir häufig unterstellt wird. Gott soll schützen, das Gegenteil ist der Fall. Aber ich bitte mir die Freiheit aus, selbst die Art und den Zeitpunkt wählen zu dürfen, wenn ich Musik hören will. Und dazu muß ich nicht in ein Restaurant gehen.

Schon vor einigen Jahren hatte sich das Europaparlament mit diesem Thema befaßt und kam zu dem Schluß, daß der Mensch ein Grundrecht auf Stille hat. So zündend wirksam, wie unser Europaparlament nun einmal ist, blieb dieser weise Schluß völlig folgenlos.

Musik an sich ist die schönste und uns am unmittelbarsten berührende der Künste. In allen Kulturen war sie immer ein festlicher Akt. Inzwischen ist sie jedoch durch die Verbreitung der elektronischen Medien und durch deren Überangebot und in inflationärem Konsum zu Krach, zu akustischem Müll, zu Weghörmusik, Wegwerfmusik und schließlich zu einer Art akustischer Umweltverschmutzung verkommen. Das reicht bis hin zur Körperverletzung, besonders dann, wenn die voll aufgedrehte Anlage meines Nachbarn meine Schreibtischplatte in Veibräischens versetzt.

Schopenhauers Kapitel 30 in den kleinen philosophischen Schriften Ueber Lerm und Geräusch ist über hundert Jahre alt und dennoch frischer als aus der Tiefkühltruhe. Er beklagt darin seine Arbeitsbeeinträchtigung durch die Rücksichtslosigkeit des nicht geistig arbeitenden Teils der Bevölkerung, die in ihrer Dumpfheit dahinlärmt und die Entwicklung seiner Gedanken durch Peitschenknall brutal abschneidet. Zwei oder drei Worte braucht man nur auszuwechseln, und das Kapitel paßt uns wieder wie angegossen. Die Geräuschempfindlichkeit des denkenden Menschen wachse mit dem Schwierigkeitsgrad seiner Arbeit, sagt er. Na stimmt doch. Irgendwann hört man dann nämlich, wie der Nachbar seine Kerze auspustet.

Unter diesem Aspekt bekommt des Menschen Ausgeliefertsein an die überbordenden Geräuschfluten unserer Gegenwart und Zukunft den Charakter einer Folter. Wer kann schon seine Ohren einfach abknöpfen?

Die schöne Mode, eine dunkle Brille bis ins Bett hinein zu tragen, symbolisiert häufig die dunkle Leere im Kopf des Trägers. Was böte sich besser an, diese Leere zuzudröhnen, als die Produkte der Unterhaltungselektronik, der Konsum von Krachgeräten? Inzwischen wachsen da mutierte Generationen heran, deren Nervensystem ganz neu organisiert sein muß. Ihnen wiederum stehen die Haare, nicht nur als Punk, zu Berge, wenn es plötzlich um sie herum still wird. Unruhe erfaßt sie beim Blick in ihr Inneres, denn in der Stille tut sich dort ein großes schwarzes Loch auf: das Nichts. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die gerade im Begriff ist, sich zu Tode zu amüsieren (Neil Postman), von Anfang an darin geübt, zwei und mehr Dinge zugleich zu tun, wie Schularbeiten bei Musik zu machen, sind sie doch außerstande, mit sich allein etwas anzufangen. Also Geräusch beziehungsweise das, was Musik genannt wird, muß sein, und wat keen Krach macht, kannich jut sein. Und im kollektiven Lärm ersteht ihnen die Illusion individueller Selbstverwirklichung.

Schopenhauer hin und her: Der einzelne hat sich immer dem Willen der Mehrheit zu beugen. Jedenfalls wird Demokratie allenthalben so praktiziert. Minderheiten? Phhh. Wer's nicht hören will, muß am Beispiel Hunger fühlen, weil: In der Öffentlichkeit gibt's nichts zu essen und nichts zu trinken ohne Zwangsbedröhnung. Kommende Generationen werden mit Walkman geboren, was beim gegenwärtigen Stand der Gentechnik keine Schwierigkeiten bereitet. Das wird dann die siegreiche Integration der Technik in die Biologie sein.

Hätte Oswald Spengler in den zwanziger Jahren etwas von dieser Entwicklung geahnt, er hätte sein Hauptwerk sicher so genannt: Der Untergang des Abendlandes findet bei Musike statt.

Es gibt in Berlin eine Bürgerinitiative gegen akustische Umweltverschmutzung. Telefon: 030/8615166