DEBATTE
: Das innere Ausland

■ Thesen zur Sozialpsychologie der Fremdenfeindlichkeit

1. Die eigene Fremdheit

Das Verhältnis zum Fremden außerhalb von uns ist abhängig von dem, was uns an uns selbst fremd ist. Das „innere Ausland“ (Freud) bestimmt entscheidend, wie Ausländer erfahren werden. Dabei ist die eigene Psyche immer nur teilweise bewußt. Je schwächer das Ich ist, desto mehr gerät die Psyche unter das Diktat unbewußter Prozesse. So kann abgespalten oder verdrängt werden, was gesellschaftlich tabuisiert ist oder das eigene Selbstbild zu sehr bedroht. Dies dem Bewußtsein Entzogene kann wiederkehren, indem es auf Fremde projiziert wird, indem es also anderen untergeschoben wird. Im Bild des bedrohlichen Fremden kann dann die verdrängte eigene Aggressivität wiederkehren. Wo geltende Regeln nur widerwillig akzeptiert werden, kann er als Rechtsbrecher erscheinen. Wo man viel arbeitet, erscheinen Ausländer leicht als faul, wo man den Mund halten muß, gelten sie als laut, wo das sexuelle Begehren nicht gelebt werden kann, erfährt man ihre Triebhaftigkeit als bedrohlich.

Doch der Ausländer muß nicht nur negative Regungen repräsentieren, mit ihm kann auch der Wunsch nach einem besseren Leben verbunden werden. Er kann für die Sehnsucht stehen, der eigenen Enge durch den Drang in die Ferne zu entrinnen, er kann die Lebendigkeit repräsentieren, die man sich selbst austreiben mußte. Man kann ihm enge soziale Beziehungen zuschreiben, die man selbst nicht hat. Die Ablehnung des Fremden resultiert dann auch aus der Angst vor Wünschen nach einem anderen Leben, die als schmerzlich erfahren werden müssen.

2. Die Nation als Familie

Lebensgeschichtliche Entwicklungen stehen in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Wie die Ablösung vom Vertrauten und die Hinwendung zum Fremden gelingt, ist entscheidend für das Gelingen oder Mißlingen menschlicher Reifungsprozesse. Das „fremdelnde“ Kleinkind fürchtet sich vor allen Menschen, die nicht seine Mutter sind; das Kind, das in die Schule eintritt, hat Angst vor der Vielzahl fremder Kinder; die Pubertät des Jugendlichen ist mit der Angst vor dem fremdartigen anderen Geschlecht verbunden.

Mit der Fremdenfeindlichkeit ist üblicherweise ein Nationalismus verbunden, von dem schon Wilhelm Reich in den dreißiger Jahren aufgezeigt hat, daß er mit ungelösten infantilen Familienbindungen verknüpft ist. „Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes, wie die Familie seine ,Nation im kleinen‘ ist“, heißt es in der Massenpsychologie des Faschismus. Das simplifizierende, emotional aufgeladene nationalistische Weltbild nimmt die Komplexität ökonomischer und sozialer Prozesse nicht zur Kenntnis. Es sucht statt dessen im nationalen Führer die starke väterliche Macht, die zusammen mit ihren treu ergebenen Söhnen die Mutter Heimat gegen fremde Horden verteidigt.

3. Die fremde Frau

Die Neigung zur totalitären Gleichmacherei, die sich gegen alles Fremde wendet, resultiert auch aus einem fragwürdigen Umgang mit der Geschlechterdifferenz. Wie mit der Fremdheit von Menschen anderer Kulturen umgegangen wird, ist entscheidend vom Verhältnis zur Andersartigkeit des anderen Geschlechts abhängig. Am Modell des Mütterlichen und Weiblichen lernen männliche Wesen den Umgang mit dem, was anders ist als sie selbst. Eine aus kulturellen Traditionen und Erziehungsprozessen resultierende Frauenfeindlichkeit bei Männern untergräbt deren allgemeine Toleranz gegenüber dem Andersartigen, an die jede Humanität gebunden ist.

Untersuchungen über „autoritätsgebundene Charaktere“, die zum Totalitären tendieren, zeigen eine Verbindung von unterschwellig angstbesetzter Frauenfeindlichkeit und „ethnozentristischen“ Einstellungen. Die Abwehr und Diskriminierung des Weiblichen beim Mann, die sich nicht zuletzt auch auf die weiblichen Anteile der eigenen Person bezieht, geht nach den Forschungen von Adorno und anderen mit der Ablehnung des Fremden, Andersartigen, Unbekannten einher. Wo Frauenfeindlichkeit eintritt, werden typischerweise neben Ausländern auch Juden, Homosexuelle, psychisch Kranke, also „Abweichler“ aller Art, diskriminiert. Das Bild des abgelehnten Fremden zeigt bei Männern meist „feminine“ Züge wie Gefühlsbetontheit, Mangel an Selbstdisziplin oder eine verführerische Sinnlichkeit.

Militante Ausländerfeinde finden sich zur Zeit vorwiegend unter männlichen Jugendlichen, die als Pubertierende besondere Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht haben und zuleich zu einer Überbetonung einer fragwürdigen Männlichkeit tendieren. Der Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit kann daher nur gelingen, wenn ein freieres Spiel der Geschlechterdifferenz zugelassen wird.

4. Der Außenfeind muß her

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist in den östlichen wie westlichen Gesellschaften der Außenfeind abhanden gekommen. Das Böse ist für die im Westen nicht mehr eindeutig am Osten festzumachen: Umweltzerstörung, arme Leute, Opportunismus und eine unaufgearbeitete Vergangenheit sind eben keineswegs nur dort aufzufinden. Daß die Weltbilder des Kalten Krieges verschwinden, hat Abrüstungsprozesse ermöglicht, die Kriegsängste reduzieren helfen. Doch hat dieser Abbau auch bisher gebundene Ängste freigesetzt. Wo die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht mehr so eindeutig zu ziehen sind wie bisher, wird es schwerer, Feinde auszumachen, denen die eigene unterschwellige Aggressivität untergeschoben werden kann. Wer, um ein prekäres psychisches oder soziales Gleichgewicht aufrechterhalten zu können, weiterhin auf Schwarz-Weiß-Bilder angewiesen ist, in denen das Böse, abgespalten vom Guten, nach außen verschoben ist, muß nach neuen Feindbildern Ausschau halten. Wer sich bedrohlichen äußeren und inneren Realitäten nicht stellen will oder kann, ist mehr denn je auf den Ausländer als Sündenbock angewiesen.

5. Die Linke ratlos

Das Wiedererstarken von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ist auch eine Folge der Krise der Linken. Der Begriff der Solidarität, einst ein Kampfbegriff der sich als international verstehenden Arbeiterbewegung, wird heute vorwiegend in Verbindung mit dem Nationalen gebraucht. Die bestehende kapitalistisch geprägte Industriegesellschaft scheint heute ohne Alternative zu sein. Die grundlegende Kritik, die die Linke an ihr geübt hat, gilt als antiquiert oder wird nicht zur Kenntnis genommen. Das Leiden an der Verdinglichung des Humanen, an sozialer Ungerechtigkeit, an Vereinsamung und Naturferne ist aber mit dem Fehlen einer gesellschaftlichen Alternative nicht aufgehoben und weckt weiterhin die Sehnsucht nach Veränderung.

Wenn die Linke keine intellektuell begründeten demokratischen Alternativen zum Bestehenden anbieten kann, muß die Kritik daran irrationale Ausdrucksformen annehmen. Wenn keine aufgeklärten gesellschaftlichen Alternativen präsentiert werden, mit denen sich Menschen identifizieren können, drohen kollektive Formen des Fundamentalismus, des Obskurantismus und Nationalismus. Die Linke hat die Aufgabe, über andere Formen der Vergesellschaftung nachzudenken und sie, soweit als möglich, praktisch zu erproben. Wo sie dazu nicht in der Lage ist, überläßt sie das Soziale dem Nationalismus, der mit Hilfe von Außenfeinden die Menschen kollektiviert. Die bestehende Form westlicher Vergesellschaftung ist mit rücksichtsloser Konkurrenz und sozialer Atomisierung verbunden, an der die Menschen leiden. Gegen sie müssen Formen des Sozialen gesetzt werden, in denen die Wünsche und Interessen von Menschen aufgehoben werden können. Nur so kann dem Nationalismus und seinen wahnhaften Fiktionen menschlicher Zusammengehörigkeit der Boden entzogen werden. Gerhard Vinnai

Der Autor ist Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen