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Oben links fehlt eins bis acht

■ Kinderkaries: Wer ist Schuld an den Zahnruinen der Kleinen?

Der dreijährigen Rachel war nur noch mit List beizukommen. Der Kinderarzt forderte das Mädchen ganz freundlich auf, die Augen zu schließen und den Mund zu öffnen. Wegen der Überraschung. Dann schnitt der Arzt dem Kind das Zahnfleisch auf, damit die Eiterbeulen im Oberkiefer auslaufen konnten.

Rachels Milchzähne sind Ruinen. Gleich nach dem Abstillen, im Alter von sechs Monaten, haben die Eltern dem Kind Fenchel- und Beruhigungstees gegeben, Marke Milupa, gezuckert. „Schon nach kurzer Zeit wollte sie nichts anderes mehr“, erzählt ihre Mutter. Das war so schön leicht, vor allem nachts, denn Milupa lieferte eine Flasche gleich mit, Nuckel inklusive.

Als die Eltern an den Zähnen des Kindes ablesen konnten, was sie da fütterten, war es zu spät. „Wir mußten einen richtigen Entzug mit ihr machen, wie bei einer Alkoholikerin, weil sie immer nur diese süßen Sachen wollte“, erzählt Rachels Mutter. Erst haben die Eltern den Tee mit Wasser verdünnt, dann schließlich nur noch Wasser in die Flasche gegeben. Jetzt trinkt die Klene „sogar Milch“, aber die Zahnruinen bleiben, Entzündungen des Zahnfleisches sind an der Tagesordnung. Rachel ist mit ihren drei Jahren Stammkundin im Zahnarztstuhl.

Der zuckerhaltige Tee hat dem Mädchen bereits jetzt die vier oberen Schneidezähne wegfaulen lassen. Neben einem zahnmedizinischen Spießroutenlaufen des Kindes beginnt jetzt für die Eltern das juristische: Die Milupa, das hat jetzt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschieden, muß für

Und Milupa hat keinen Pfennig dazubezahlt.Foto: Falk Heller

die durch ihren Tee entstandenen Zahnschäden haften. Ein sensationelles Urteil, das allerdings einen gravierenden Haken hat: Nach Auskunft von Zahnärzten ist bislang kaum festzustellen, welchen Anteil einer Kinderkaries von den Süßtees und welcher möglicherweise durch mangelnde Zahnpflege entstanden ist.

Dr. Brigitta Klasen vom zahnärztlichen Dienst im Hauptgesundheitsamt (HGA) Bremen bestätigte auf Anfrage zwar, daß „Zucker der Hauptfeind der Zähne“ sei, allerdings stellt sie bei den Bremer Schülern im Prinzip eine „Rückläufigkeit der Karies“ fest. „Das Probelm der Tees ist in erster Linie nicht ihr Zuckergehalt, sondern die Tatsache, daß sie zum Einschlafen verabreicht werden“, sagte die Zahnärztin. Karies entsteht nämlich

vor allem durch Mundbakterien, die u.a. durch Zucker ernährt werden. Die Bakterien scheiden eine Säure aus, die den Zahnschmelz angreift und zerstört. „Bei regelmäßiger Mundhygiene wäre Zucker kein Problem.“

Ein ähnlicher Tenor kommt auch von den Krankenkassen. Zwar gibt es noch keine offiziellen Stellungnahmen, weil die Urteilsbegründung des BGH noch nicht schriftlich vorliegt. Doch glaubt man auch hier nicht, an die Industrie als einzigem Verursacher der Kinderkaries. Dieter Volkmann, im Landesausschuß des Verbandes der Angestellten- Krankenkassen (VdAK): „Wer sich als Eltern ein bißchen mit Ernährung beschäftigt hat, weiß über die Wirkung von Zucker Bescheid. Es ist auch immer ein Problem: Was mache ich mit dem

Kind.“

Die Krankenkassen würden sich die Hände reiben, wenn sie dem Konzern einen Teil der gesundheitlichen Folgekosten für Zahnbehandlungen aufdrücken können. Doch danach sieht es trotz BGH-Urteil nicht aus. „Man muß selbst schon sehen, daß das, was man kauft, nicht krank macht“, sagte ein Zahnarzt, der nicht namentlich genannt werden will.

Für Rachel geht der Horror weiter. Seit sie von dem Kinderarzt übertölpelt wurde, weigert sie sich, den Mund aufzumachen, „und sie selbst merkt schon, daß sie unangenehm aus dem Mund riecht“, erzählt dieMutter. Bereits mehrere Zahnärzte haben die Eltern konsultiert, ohne Erfolg: „Dabei kann man zusehen, wie die Zähne faulen.“ mad

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