Die Leere ist ein Kreisverkehr

■ Wo das Stadtbild zu wünschen übrigläßt (4): Auf dem Moritzplatz droht der Autoverkehr die Geschichte und Planung erneut zu überfahren/ Nichts bleibt haften

Kreuzberg. Speziell am Abend gleicht der Moritzplatz einem rotierenden Lichtkarussell: Es dauert nur wenige Augenblicke, und jeder Kraftwagen wird erfaßt vom Kreislauf des sich ein- und ausfädelnden Verkehrs. Seit der Grenzöffnung braust er um einen dunklen, fast unsichtbaren Schwerpunkt, der die Fahrzeuge aus der Prinzen/Heinrich-Heine-Straße anzieht und sie in Richtung Oranienstraße wieder entläßt. Weiße Autoscheinwerfer mischen sich mit roten Rückleuchten. Der Kreisel wird zum Drehwurm, weil automobil alles um ihn herumrast. Dennoch bildet der Platz eine leere Fläche, an der nichts mehr kleben bleibt. Die wenigen existierenden Bauten an seiner nordöstlichen Kante fliegen vorbei, als seien sie in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Wenn der Verkehr einmal zur Ruhe kommt, zieht nicht das Leben auf dem Moritzplatz ein. Es herrscht Friedhofsruhe auf den Fahrbahnen.

Es ist kaum vorstellbar, daß sich um die rhombische Platzform einst Messels erstes monumentales Wertheim-Kaufhaus, Aschingers Bier- und Suppenquelle, Hotels, Banken, Läden, Tanz- und Saalbauten und — immer weniger — Wohnhäuser gruppierten. Der Moritzplatz, erst simple Straßenkreuzung, dann von Lenne als auf die Spitze gestelltes Quadrat (ein Pendant zum Heinrichplatz) entworfen, spielte bis zum Zweiten Weltkrieg die Rolle eines kleinen Potsdamer Platzes: Gelenkstelle zwischen altem Zentrum und dem Bezirk Kreuzberg, Verkehrsknotenpunkt mit modernem U-Bahnhof sowie Wohn- und Gewerbestandort am Rande der City. Mit seiner Zerstörung, dem Abriß, der Grenzlage und der Schleifung seiner historischen Oberfläche bietet er weitere Parallelen zum »großen Bruder« Potsdamer Platz.

Die zurückgesetzte häßliche Bebauung mit Hochhäusern an der Nordwestseite des Moritzplatzes, die Reduzierung auf eine Verkehrsinsel am Stadtrand, Autoabstellflächen und nichtöffentliches Grün bilden heute die brutalen Indizien einer Stadtplanung, die den Platz bis Ende der siebziger Jahre freihielt für eine west- östliche Autobahntrasse. Unter diesem Primat leidet er bis dato, ist entvölkert und nach dem Fall der Mauer nur zum »Einfädeln« zu gebrauchen. Wie viele Jahre müssen noch vergehen, bis der Moritzplatz eine sichtbare städtebauliche Form zurückerhält? Wann endlich bekommt die Architektur ihr Recht zurück, dem Platz wieder ein Gesicht zu geben? Wie lange dauert es noch, bis ein umweltfreundliches Verkehrskonzept vorliegt?

Zwar werden an der nordöstlichen Seite des Moritzplatzes die Lücken zwischen den existierenden Bauten mit einer Blockrandbebauung geschlossen und an der südöstlichen Kante mit dem »Ost-West-Handelszentrum« ein ökologischer Gewerbehof entstehen, dessen Profil weitgehend der früheren Bebauung entlang der Prinzen- und Oranienstraße folgt. Allein die westliche Seite des Moritzplatzes bleibt nach wie vor zerrissen, ohne bauliches Konzept. Sie wird von Autos regelrecht »überfahren«. Von behutsamer Stadterneuerung und einem »ökologischen Modellfall« (Wolfgang Nagel) bleibt da nichts übrig, solange es am Platz rotiert und keine städtebauliche Form die zentrifugalen Kräfte aufhält. Der Moritzplatz erscheint als eine leere Fläche, die wenig hält. Rolf R. Lautenschläger

PS: Der Autor dankt der Architektin Jutta Kalepky für ihre freundliche Hilfe.

(Die Serie wird fortgesetzt.)