Hilfe für vernachlässigte Kinder

■ Die Mitarbeiter der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste besuchen Familien nach der Geburt eines Kindes/ Beratung gibt es auch bei persönlichen Konflikten/ Weiterfinanzierung noch ungewiß

Berlin. 18.000 Kinder sind im vergangenen Jahr allein im Westteil Berlins zur Welt gekommen. Viele von ihnen werden nicht in die sprichwörtliche heile Welt hineingeboren. Alleinstehende und Eltern fühlen sich oft zunächst überfordert, wenn sie plötzlich 24 Stunden am Tag einen Säugling um sich haben. Alle Familien stehen damit vor einer völlig veränderten Situation, in der sie oft nur wenig Unterstützung finden. Doch ganz allein sind sie nicht: In den ersten Wochen nach der Geburt meldet sich bei jeder Familie ein Mitarbeiter des örtlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) zu einem Besuch an. Die Dienste, bestehend aus Ärzten, Krankenschwestern und Sozialarbeitern kümmern sich nicht nur um streng gesundheitliche Belange, sondern arbeiten ganzheitlich.

Bei ihren Besuchen versuchen die Mitarbeiter, sowohl medizinische wie auch soziale und wirtschaftliche Probleme der Familie auszuloten und beratend zur Seite zu stehen. Insbesondere Alleinstehende seien oft auf konkrete Hilfe oder Unterstützung angewiesen, erzählt Sigrid Andrews, Sozialarbeiterin im KJGD Schöneberg. »Wir erreichen mit den Hausbesuchen Leute, die nie bei einer Beratungsstelle auftauchen würden und möglicherweise auch nicht zum Kinderarzt gehen«, so Andrews.

Bei Bedarf nimmt der KJGD auch vernetzende Aufgaben wahr und stellt den nötigen Kontakt zu Beratungsstellen oder dem Kinderschutzzentrum her. »Oft werden wir von Nachbarn oder anderen Klienten auf Probleme in Familien hingewiesen, in denen dringend etwas unternommen werden muß«, erzählt Andrews. Das größte Problem sei häufig die Vernachlässigung der Kinder. Diese Ansicht teilt auch Pieter Hutz vom Kinderschutzzentrum Berlin, der das Problem aus seiner Arbeit dort kennt. »Auch Todesfälle in jungen Jahren hängen oft mit Vernachlässigung zusammen«, so Hutz. Meistens gerate das jedoch nicht an die Öffentlichkeit.

Die Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten, so Hutz, sei ein wichtiger Bestandteil ihrer Möglichkeiten, an zerrüttete Familien heranzukommen. In den seltensten Fällen nämlich schickten niedergelassene Kinderärzte Familien vorbei. »Die Dienste bekommen wegen ihrer Arbeit vor Ort und der Mischung aus Sozialarbeitern und Ärzten oft einfach mehr mit«, so Hutz. Kinderärzte hingegen würden ihre Arbeit oft aufs rein Medizinische beschränken.

Die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste gibt es bereits seit 70 Jahren. Sie sind in allen Berliner Bezirken an die Gesundheitsämter angegliedert. Während sie im Osten noch aufgebaut werden, gilt im Westen schon seit langem das Prinzip des »Kinderwagenradius«. So gibt es allein in Schöneberg vier Beratungsstellen, die Mütter kieznah auch zu Fuß erreichen können.

Die Zukunft der Dienste über das kommende Jahr hinaus ist allerdings nicht gesichert. Bereits im Mai dieses Jahres legte die Gesundheitsverwaltung einen Entwurf vor, nach dem die sozialpsychologischen Aufgaben der Dienste drastisch reduziert werden sollten. Nachdem die Mitarbeiter mobilmachten, wurde der Entwurf zwar wieder beiseite gelegt, an eine endgültige Entwarnung wollen die Betroffenen aber nicht glauben: »Berlin liegt mit an vorderster Stelle, was den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsdienste betrifft«, gibt Professor Johannes Korporal von der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu. »Aber wo liegen denn die Alternativen?« Korporal fürchtet für Berlin amerikanische oder englische Verhältnisse und bezeichnet die angedachten Einsparungen als »Maßnahmen gegen die Armen«.

Gerade in Anbetracht der massiven Umstrukturierungen im Gesundheitswesen im Ostteil der Stadt müßten öffentliche Gesundheitsdienste, die nicht lohnabhängig arbeiteten und die gesamte Bevölkerung erreichten, erhalten bleiben.

Während Gesundheitssenator Peter Luther nun noch einmal die Notwendigkeit der ans Bezirksamt angegliederten Kinder- und Jugendgesundheitsdienste überprüfen läßt, wurden jene selber aktiv: In Zusammenarbeit mit der FHSS erarbeiteten die Mitarbeiter aus 23 Bezirken eigene Ausführungsvorschriften über die Aufgaben des KJGD. Sie fordern, psychosoziale Beratung als öffentliche Aufgabe zu verankern und die volle Kompetenz der Sozialarbeiter aufrechtzuerhalten. Jeannette Goddar