Das umgekehrte Bayreuth

Seismograph des Antitotalitären. Über die einseitige Rezeption Siegfried Kracauers, dessen Todestag sich zum 25. Mal jährt  ■ Von Tilo R. Knops

Siegfried Kracauer (1881 bis 1966) gilt heute als Seismograph des Randständigen. Lange vor der Postmoderne hatte sich der Schüler des Lebensphilosophen Georg Simmel vorgenommen, aus der Beobachtung von Tillergirls und Kitsch, Fotografie und Kino, Ladenmädchen und Angestellten „den Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt“, zu bestimmen. Mit Brecht soll er aneinandergeraten sein; als der auf den Jasager den Neinsager folgen ließ, kündigte Kracauer an, den „Vielleichtsager“ zu schreiben.

Der Ruhm als einflußreicher Historiker des Weimarer Films ist erstaunlich verblaßt. Seiner berühmten Spiegelthese, derzufolge im deutschen Film mit Tyrannenfiguren und -motiven von Homunculus über Caligari und Dr.Mabuse bis Fridericus Rex ein Weg zum Hitler-Terror vorgezeichnet war, lagen zwar eklatante Verkürzungen zugrunde. Aber obwohl sich keine fatalere These denken läßt als Kracauers Abrechnung mit der „Goldenen Ära“, löste das Buch bei den selbsternannten Erben dieser Tradition Begeisterung aus. Waren die deutschen Filme doch 1920 einer gern gelaubten Mär zufolge in New York, London und Paris gefeiert worden. Daß der Emigrant, dem seine Studie u.a. durch die Rockefeller-Foundation ermöglicht wurde, es sich in vielem zu leicht gemacht hat, versteht sich aus dem Kontext der Zeit. Kein Wunder, daß die Konzeption einer Kollektivmentalität im Jahre 1946 allzu allgemein konstruiert war, die Vorstellung vom Film als Spiegel der Gesellschaft zu mechanistisch.

Die deutsche Filmkritik jedoch sah nur die generellen Thesen und machte den sozialpsychologischen Reduktionismus zur vorherrschenden Methode. Und das, obwohl die Auseinandersetzung mit ästhetischen Formen im Gegensatz zum abstrakten, auf Drehbuchkritik beschränkten „Inhaltismus“ in Kracauers Caligari-Buch durchaus vorkam, wenn auch nicht systematisch entfaltet wurde. Heute ist die Filmwissenschaft im Vergleich zu filmsoziologischen Pionierzeiten vorsichtiger, wenn es darum geht, welche nationalen Eigenheiten, sozialen Klassen, Schichten oder geschlechtsspezifischen Bedürfnisse sich in Filmen darstellten, dargestellt wurden oder welche angesprochen werden sollten.

Nicht weniger oberflächlich ist die Abkehr vom führenden Übervater. Wiederum werden Einsichten übersehen, mit denen Inhaltisten wie Formalisten offenbar nie etwas anfangen konnten. Kracauers Distanz gegenüber marxistischen Begriffen und Methoden galt als „bürgerlicher“ Zug, als peinliche Schwäche. „Auch nachdem er mit Marx sich beschäftigt hatte“, tadelte Adorno, „behielt seine Gesellschaftskritik [...] das Einzelgängerische.“ Kracauers antitotalitäre Wertvorstellungen fanden im eindimensionalen Weltbild seiner cineastischen Epigonen keinen Platz.

Beispielsweise hatte er die für die deutsche Filmgeschichte typische Mesalliance von Film und bildungsbürgerlichen Werten beklagt, ebenso den Hang zur Bevormundung des Publikums. Ein Hang, der sich noch bei den Nachfahren der „Goldenen Ära“ von Werner Herzog bis zu Alexander Kluge finden läßt. Auch wenn er sich die eigene Lust an der filmischen Massenkultur nur über den Umweg gestattete, eine „Studie“ über das filmische Vergnügen mit dem Titel Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino zu schreiben; wenn er als gebildeter Intellektueller die üblichen Vorbehalte gegenüber der Traumfabrik Hollywood hegte, verzeichnete er doch kontinuierlich qualitative Unterschiede zwischen den deutschen, französischen und amerikanischen Filmen. Was ihn störte, war nicht bloße „Inhaltsleere“, sondern Leblosigkeit und Phantasielosigkeit, eine Pseudolebendigkeit, die durch belebte und bunte Kulissen nur vorgetäuscht wird. Da fiel ihm an den Dramen und Komödien der Stabilisierungszeit auf, wie „mechanisch fabriziert“ sie waren, und er fuhr fort: „Wenn Hollywood ähnliche Themen verfilmte, behielten die Ereignisse und Charaktere wenigstens einen leisen Hauch von Lebendigkeit. Jene deutschen Filme aber waren gekünstelte und verlogene Machwerke.“

Höhnisch kommentierte Kracauer die mißglückten Versuche, aus dem nationalen Prestige einer Volkssage Kapital zu schlagen wie in Murnaus Faust 1926: „Die abgeschmackten Posen, in denen die Schauspieler sich gefielen, verrieten die Falschheit des Ganzen.“ Ebenso scharf kritisiert er die Vorliebe Fritz Langs für die künstliche Studiowelt, die der Regisseur der Außenwelt und ihren Zufällen vorzog. Die Begründung der Ufa auf Propagandainteressen, die Gewöhnung der Deutschen an autoritäre Behandlung, die in Demokratien wie in den USA undenkbare Überzeugung der Behörden, daß die öffentliche Meinung eine Masse sei, die sie zu jeder gewünschten Form kneten könnten; das Fehlen nationaler Genres wie des angelsächsischen Detektivfilms, des Melodrams oder der französischen Komödie — all dies waren Anmerkungen zu einer Ästhetik, deren Grundkriterien Spontaneität und Lebendigkeit hießen.

Kennzeichnend für die Einseitigkeit der Kracauer-Rezeption ist auch, daß seine im Exil veränderte Vorstellung des Verhältnisses von Film und Gesellschaft nie auf den Erfahrungshintergrund bezogen wurde. Hatte der Weimarer Kritiker sich den Umgang der Produzenten mit dem Publikum nur entsprechend den hiesigen, unter Linken wie Rechten verbreiteten treudeutschen Klischees von Konsum und Massenkultur als Manipulation vorstellen können, beschrieb er die Realität der Traumfabrik vor Ort nun genau umgekehrt. Seine Einsicht, daß es sich Hollywood gerade der Marktorientierung wegen nicht leisten konnte, an den Publikumsbedürfnissen vorbei zu produzieren, stieß bei seinen Nachläufern auf Unverständnis und Ignoranz.

Ein weiteres Tabu der cineastischen Linken schützt die Legende, Kracauer sei ein enthusiastischer Bewunderer des russischen Montage- Kinos der Zwanziger gewesen. Als Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin 1926 nach Verbot und Zensur in die Kinos kam, hatte er zwar in der Tat die Errungenschaften der Revolution begeistert gespriesen. Der Respekt für dieses erste „Zeugnis für die Substanz des russischen Volkes“ hinderte ihn jedoch nicht, zwei Jahre später Eisensteins Oktober als „offizielles Revolutionsfestspiel“ zu attackieren, dem anzumerken sei, „daß es von der Sowjetregierung in Auftrag gegeben worden ist“. Kracauer kritisierte das Verfahren, nach dem die Einzelheiten des Films dem Begriff entsprangen: „Statt daß die Bilder den Text überflüssig machten, ist ein Text bebildert [...] Jeder Zierrat am Winterpalais gilt als Zeichen des alten Regimes.“ An Pudowkins Das Ende von St.Petersburg (1928) kritisierte er dieselbe Erstarrung: „Aus der revolutionären Haltung heraus empfängt alles, was im Film erscheint, seine Bestimmung.“ Sturm über Asien (1929) schließlich, in dem Pudowkin neben dem gefangenen Jäger ein Aquarium zeigt, in dem sich gefangene Fische an den Wänden stoßen, war ihm „ein umgekehrtes Bayreuth“. „Vielleicht“, spekulierte er treffend, „hat er gerade darum bei uns ein solches Entzücken ausgelöst?“

Eisensteins Oktober erschien ihm unverständlich. Was, fragte er, ist beabsichtigt mit einer Sequenz „von Gottheiten verschiedener Völker, die sich von einem barocken Christus, den wir unbedenklich akzeptieren, bis zu einem exotischen Eskimo- Idol erstreckt? [...] Eisenstein vertraut darauf, daß der Anblick des primitiven Idols am Ende der Reihe das Publikum dem Christus an ihrem Beginn entfremden wird. Aber viel wahrscheinlicher ist, daß, zumindest in demokratischen Ländern, der mit dieser Sequenz verbundene Zweck dem Zuschauer völlig entgeht; sie erscheint ihm eher als eine ziellose Aneinanderreihung religiöser Bilder denn als ein Angriff auf die Religion.“ Kracauers Fazit: „Eisenstein überschätzt die Symbolkraft von Bildern und setzt alles daran, das von ihnen selber Gemeinte willkürlich mit Bedeutungen seiner eigenen Wahl zu überlagern.“

Das willkürliche Verfügen über visuelle Bedeutungen im Namen der Emanzipation der Massen mußte Kracauer, der obrigkeitsstaatlichen Normen und objektiven Geltungsansprüchen zeitlebens mißtraute, widerstreben. In der Auftragsstudie Propaganda und Nazikriegsfilm konstatiert er, daß die dogmatische Bevorzugung des Massenhaften aus den sowjetischen Filmen sich in der Nazipropaganda wiederfindet: Der Fortgang der Filme erfolgt durch das Handeln des Kollektivs. Die Einzelheiten werden vorwiegend als Typen gesehen, als Exemplare ihrer Gruppe. Wenn auch nur auf der Oberfläche, erscheint ihm die Ähnlichkeit zwischen Eisenstein/Pudowkin und den Nazipropagandafilmen schlagend. In ihrer Verachtung für individuelle Werte verließen sich die Nazis eher auf klassische russische Muster wie den Potemkin, den Goebbels bekanntlich als Vorlage empfahl, als auf die Methoden westlicher Demokratien: „Linke Montagetechnik im entgegengesetzten Sinn“.

Während Kritikerpapst Herbert Ihering 1926 vor Amerikanismus warnte, Hollywood für „schlimmer als den preußischen Weltmilitarismus“ hielt und sein Kollege Alfred Kerr zur gleichen Zeit in Hymnen auf die russische Filmkunst ausbrach („Es gibt Großes, wenn Künstler Heilige sind!“), war Kracauer gefeit gegen die teutonische Anfälligkeit für totalitäre Zwangsvorstellungen. Sie bedeuteten ein Defizit an bürgerlich-liberaler Kultur, das für die politische Entwicklung nicht folgenlos war. Eisensteins Doktrin, „mit der ,Filmfaust‘ auf die Schädel ein[zu]hämmern bis zum Sieg“, das Publikum mit angeblichen Eindeutigkeiten der Bilder zu behandeln „wie ein Traktor, der die Psyche des Zuschauers umpflügt“, hielt Kracauer die Ambivalenzen eines D.W. Griffith entgegen. Hier, in der Haltung amerikanischer Filme, die Gesellschaft oder das nationale Leben durch die Biographie eines für seine Epoche repräsentativen Helden zu reflektieren, lag eine Vorstellungskraft für das Gesellschaftliche im individuellen Alltag. In der Offenheit des Visuellen bei Griffith lag für den Voyeuristen aus Passion ein aufrichtiges Bemühen um Wahrhaftigkeit.