piwik no script img

Zwei Welten

Über Gus van Sants „My Private Idaho“  ■ Von Christiane Peitz

Nachts, im Freien, ein Lagerfeuer. Zwei Jungen im Halbdunkel, verfroren, zusammengekauert. Mike und Scott, Strichjungen. Sex mit Männern machen sie nur für Geld; ihre Freundschaft hat damit nichts zu tun. Sie reden darüber, zögernd, leise. Scott sagt: „Zwei Männer können sich nicht lieben.“ Mike sagt: „Ich möchte dich küssen.“ Eine Liebeserklärung. Danach sackt er noch mehr in sich zusammen. Scott lächelt gerührt, aber befremdet. Mikes Liebe kann er nicht erwidern. Mit einer Geste der Zuneigung weist er sie zurück: Fürsorglich nimmt er den Freund in die Arme. Daß ein Mann einen Mann liebt, kann ich nur schwer verstehen. Daß er jedes Recht darauf hat, es zu tun, ist dabei keine Frage. Eine Befremdung. Filmemacher wie Derek Jarman, Rosa von Praunheim, Filme wie Der Kuß der Spinnenfrau oder Heiner Carows Coming Out — sie ignorieren meine Befremdung, notwendigerweise. Gus van Sant inszeniert sie.

Es ist die erste Filmszene, die ich kenne, die mich involviert in eine Liebe zwischen Männern. Sie macht mich mit Mikes Sehnsucht ebenso vertraut wie mit Scotts Abweisung. Denn Scott ist tatsächlich ein Mann zum Verlieben, egal für welches Geschlecht. Daß Mike den attraktiven, souveränen Freund sexuell begehrt, versteht sich wie von selbst. Andererseits ist es Mike, für den Gus van Sant unser Herz schlagen läßt. Mike, der Narkoleptiker (Leute, die Schlafkrämpfe bekommen) mit der koksverschnupften Nase, der unrasierte, ewig alleingelassene Stricher. Ein Jungengesicht in Männergestalt, einer, der wenig sagt und viel schläft, der sich, wenn er seine Schlafanfälle bekommt, hinlegt und träumt, von einer Frau in Weiß, die seine Mutter ist, von Wiegenliedern und Wolken im Zeitraffer: My Private Idaho. Dann wacht er auf und sieht, wie sein Kunde sich erhebt, die Hose zuknöpft und im Bad verschwindet. Kitsch und Ekel zugleich. Zärtlicher Traum und billiges Geschäft, Intimität und Exhibition: ein und dasselbe. Gus van Sant porträtiert seinen Helden nicht als soziales Opfer, dem Mitleid gebührt, sondern als Traumtänzer, der sich über sein Leben auf der Straße keine Illusionen macht, als ernüchterten Süchtigen, der uns nahegeht, hautnah im Wortsinn: Unwillkürlich imitiert man sein Schniefen und wie er sich ständig die Hand an die Schläfe legt. Man weiß, er wäscht sich selten, er riecht bestimmt schlecht. Aber man mag den Geruch. Denkt man.

Dann diese Szene. Einmal die Hoffnung auf ein bißchen Glück, aber Scott ist nur irritiert. Es ist dieselbe Irritation wie meine eigene, mit ihr habe ich teil an Scotts Zurückweisung, seinem Verrat an der Liebe des Freundes. Eine doppelte, paradoxe Identifikation: Ich identifiziere mich mit Mike und seiner Homosexualität und verrate sie zugleich mit dem Verständnis für Scotts Vorliebe für das weibliche Geschlecht.

My Private Idaho wagt eine schier unmögliche Mischung: Dokumentarfilm und Kunstkino, Milieu und Shakespeare. Mit rüder Ehrlichkeit erzählt der Film vom Schicksal der Strichjungen in Portland, Oregon, und zugleich zitiert er HenryIV. und inszeniert Renaissance-Ambiente, schwelgt in satten Farben, Bordeauxrot und van-Goghschem Gelb. Ursprünglich waren es zwei Filme, erzählt der Regisseur. Schon vor zehn Jahren wollte er die Geschichte von Prinz Hal aus Shakespeares Henry IV. auf die Leinwand bringen, gleichzeitig schwebte ihm ein Film über einen narkoleptischen Strichjungen vor. Dann sah er Orson Welles‘ Falstaff und lernte einen Penner namens Bob kennen, der ihn an Falstaff erinnerte. Das brachte ihn auf den Gedanken, die beiden Geschichten zu kombinieren. Der Erfolg seines Drugstore Cowboy ermöglichte es ihm außerdem, die Hauptrollen nicht, wie zunächst vorgesehen, mit Laien zu besetzen, sondern mit zwei Stars: Keanu Reeves als Scott und River Poenix als Mike. Mike kommt aus einer kaputten Familie, er hat schon immer auf der Straße gelebt und wird nie von ihr wegkommen. Scott ist ein Kind aus reichem Hause, sein Vater ist Bürgermeister. Daß er auf den Strich geht, geschieht aus reinem Protest. Der gefallene Sohn als späterer Thronfolger, wie Shakespeares Prinz Hal: Scott macht nie einen Hehl daraus, daß sein Leben auf dem Strich nur vorübergehend ist. Der Unterschied zwischen Reich und Arm: Für Scott ist es ein Spiel, für Mike die Existenz. Mike sieht man bei der Arbeit mit den Kunden, Männer mit feisten Bäuchen, Reiche in teuren Wohnungen, Betrunkene, Verklemmte. Scott nie. Weder der Job noch die Freundschaft der beiden kann die Klassenschranke überwinden. Sie bleibt ein flüchtiger, illusionärer Moment.

Einmal sitzen die Jungs beim Fastfood-Chinesen und berichten von ihren ersten Kunden. Fast alle schildern eine Vergewaltigung, etwas Widerliches, Brutales; Spaß gemacht hat es keinem. Ein andermal posieren sie als lebendige Zeitschriften-Covers in einem Pornoladen und gestehen einander ihre Träume: Erfolg, Reichtum, eine Band, oder auch nur ein ganz normales Spießbürgerleben. „Ein Hotelzimmer mit Badewannen-Duschkombination“, wird Mike später sagen. Sie schlafen unter Plastikplanen, klauen Mofas und lungern in einem halbverfallenen Haus herum, ihrem heimlichen Königreich. Ihr Chef: der dicke, alte Bob, Falstaff in Penner-Klamotten. Scott macht ihm die Führerschaft streitig: ein Bandenkrieg in Shakespeare-Versen, Landlords in Bademänteln, Überfälle, Razzien.

Gus von Sant gelingt es dabei, die Brutalität des Straßenlebens, das Ordinäre, Gewöhnliche nicht ästhetisch zu überhöhen. Gus van Sants Mischung funktioniert, weil er das eine nicht mit dem anderen verwechselt. Mischung ist so gesehen das falsche Wort: Er stellt die Milieubilder und das Kunstkino nebeneinander, manchmal in der gleichen Einstellung, aber sie verschmelzen nicht. Selbst die künstlichsten Szenen — Standbilder vom Sex: Scott und Mike mit Hans, einem perversen Deutschen (Udo Kier) — bergen ein realistisches Moment, eines, das außerhalb des Filmgeschehens liegt. Die schnell geschnittenen Standbilder — als sei's ein Pornoheft, in dem man blättert — spielen nicht nur auf die Arbeitswelt der Strichjungen an, sondern auch auf die Produktionsbedingungen eines US-Films. Wenn die Männer sich bewegt hätten, sagt Gus von Sant, wäre sein Film in den USA dem X-Rating zum Opfer gefallen; als Pornofilm eingestuft, wäre er kaum in die normalen Kinos gekommen. Unbewegt hingegen lassen die Behörden den Sex passieren.

Mike sucht seine Mutter. Sein Traum vom Zuhause ist karg genug: ein Holzhaus vor einer leeren Landschaftskulisse, verwackelte Videobilder von einer billigen Schönheit, ein surrealistisches Idyll. Mit Scott fährt er nach Hause, nach Idaho, zu seinem Bruder, der vielleicht auch sein Vater ist und ihm zumindest die halbe Wahrheit ins Gesicht sagt: Seine Mutter ist eine Hure. Mike und Scott suchen sie in einem Hotel und dann in Rom, der klassischen Stätte für klassische Tragödien. Vergeblich. Scott findet Carmela, das Mädchen seiner Träume. Mike gesellt sich zu seinen Kollegen auf Roms Straßen. Am Ende steht er wieder auf der Straße nach Idaho, die sich schier unendlich in den Horizont erstreckt, menschenleer, links und rechts wogende Kornfelder, ein Gemälde, blendend schön. Er hat Straßen geschmeckt, sagt Mike. Diese Straße ende niemals. Er schnieft, bekommt einen Anfall, liegt auf dem Asphalt, ein zitterndes Bündel. Ein Auto taucht am Horizont auf. Es hält an, die beiden Insassen steigen aus und nähern sich Mike. Dann stehlen sie ihm die Schuhe.

Gus van Sant: My Private Idaho . Mit River Phoenix, Keanu Reeves, William Richert, Udo Kier. USA 1991, 105 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen