Vom Grabbeltisch

■ Aus dem Alltag einer bayerischen Strafanstalt

Das kleine Gefängnis gilt als Schmuckstück im Ensemble der bayerischen Strafanstalten. Vor zwei Jahren für einhundertzwanzig Delinquenten erbaut. Kostenpunkt: dreißig Millionen. Ein künstlicher Hügel hebt die öffentliche Frontseite aus lehmfarbenem Waschbeton über die flachen Äcker im Osten und die mit winzigen Häuslein von Westen heranwachsende Stadt. „Alcatraz“ wird der Komplex genannt, den kastenförmig eine aus Betonsegmenten gefügte Mauer umschließt.

Ein terrassierter, von Stahlrohrgeländern geleiteter Fußweg führt neben der geteerten Auffahrt empor. Der obere Hof ist den Gefängnistransportern sowie den Lieferwagen der Arbeitstische vorbehalten. Die alte Zwangsarbeit entspricht der neueren Arbeitspflicht. Im Akkord werden Hosengürtel mit Ziernähten gesäumt und diverse Ersatzteile für die Automobilindustrie verkaufsfertig verpackt. Auch Tüten werden geklebt.

Ein Block, in dem sich — halb Keller, halb Souterrain — die Arbeitshallen befinden, ist wie ein Bollwerk zwischen die höhere Ebene und dem eine Etage tiefer gelegenen Spazierhof gesetzt. Dieser, von giraffenhohen Gattern aus Manganstahl umstellt, sieht aus wie das Gehege eines altertümlichen Zoos. Im Quadrat führt ein schmaler Weg — 40 Schritte/40 Schritte — um das Volleyballfeld, das von April bis Oktober an trockenen Tagen — nicht aber an den Wochenenden — von jenen benutzt werden darf, die „ein vollständiges Sportdreß“ besitzen. Bei den kläglichen Monatslöhnen zwischen fünfzig und einhundertfünfzig Mark ist das Ballspiel nur wenigen vergönnt. In der Hofpflasterung wurden einige Stellen ausgespart. Dort stecken besenstildünne Bäumchen im getorften Boden. Jeweils drei dicke, glatte Pfosten halten den Aspiranten zwischen starken Hanfstricken.

Bei schlechtem Wetter drängen sich die beiden Aufsichtsbeamten in einem telefonzellenähnlichen Kabuff, in dem winters eine Elektroheizung für Behaglichkeit sorgt. Die Gefangenen laufen im Kreis. Zaghaft oder mit raumgreifenden Schritten — je nachdem.

Der Speiseraum des Personals gleicht einem Hotelfoyer. Die Tische sind weiß aufgedeckt und werden mit Blümchen geschmückt, ein freundlicher Bodenbelag dämpft die Schritte, die von den Kalfaktoren polierten Weißbiergläser über dem Büffet in den Regalen blitzen wie die Politur der gewaltigen Espresso-Maschine. Die Gefangenen hingegen vergnügen sich in kahlen, schmucklosen Räumen, wo mangels Alternativen bis zur Erschöpfung die Karten knallen. Es gibt eine Beamtenküche, Beamtenbesteck, Beamtengeschirr und Beamtenhandtücher. Sogar die Beamtentoiletten, die mit Seifenspendern und großen Spiegeln ausgerüstet und auch hübsch gekachelt sind — und die bei Androhung härtester Strafen nur von den Wärtern besucht werden dürfen —, bestätigen den Bruch der Vollzugswirklichkeit in zwei separate Teilstücke.

Friseur und TV

zwischen frühmorgendlichem Zellenaufschluß und dem Löschen des Lichtes Punkt zehn ergibt sich im minutiös eingeteilten monotonen Rhythmus des Tages selten eine freundliche Störung, so daß selbst der allmonatliche Auftritt des Friseurs aus der Stadt zu einer gutbesuchten Veranstaltung wird. Die Gefangenen versammeln sich im Schneideraum, still und gespannt wie zum Fernsehen. Nur wenige getrauen sich endlich unter des Meisters Schere, der trippelnd, schnippelnd — in einem Nadelstreifenjackett, das ihm, weil er so klein ist, zu den Knien abhängt — seine erstarrten Opfer umkreist. Aus den Jackentaschen ragen, blank und braun, die Griffe etlicher Bürsten, das Stahlskelett eines Kammes sowie der Plastikschaft einer uralten Mähmaschine. Pro Kopf erlegt die Anstalt sechs Mark. Für diesen Preis hat man nicht viel zu erwarten. Bearbeitet der rasante Haarmann einen der Ausländer, die hier — von vierzehn Jahren aufwärts bis zum tattrigen Rentenempfänger — kleinerer Klauereien wegen inhaftiert sind, scheint die Lehrzeit besonders gründlich vergessen. „Prima, ist doch prima!“ verteidigt er mit italienischem Zungenschlag das Ergebnis seines Wirkens gegen zaghaft geübte Kritik.

Videos erfreuen sich großer Beliebtheit. Noch die vierte Wiederholung eines Karatefilms findet ein interessiertes Publikum. Der knochenbrechende Auftrtt des positiven Helden entlastet die Zuschauer zusehends, die selbst immer nur die Getretenen waren und nun, sich in die perfekte Rolle versetzend, zurückschlagen dürfen. Straflos. Das Geheimnis der Erlösung heißt Kung-Fu. Da straffen sich die Trapezmuskeln des Mannes aus Leipzig, dem durch ständige Überlastung infolge zahlloser Liegestütze an den Oberarmen kloßähnliche Gebilde wuchsen. Wegen des Versuchs, das Begrüßungsgeld zum Vereinigungsakt ein weiteres Mal zu ergattern, muß er nun, da, wie es in der Urteilsschrift heißt: „Der Begrüßungsgeld- Stempel im Personalausweis (...) dem aufmerksamen Beamten (...) nicht entgangen war“, die böse Tat mit dreimonatigem Freiheitsentzug büßen. Der arbeitslose Glasschleifer — wegen hartnäckigen Fahrens mit einem nichtversicherten Mofa zu fünf Monaten verurteilt — zuckt mit den Augenbrauen bei jedem Hieb und verbrennt sich die Finger, als er, dem Kampf der Giganten folgend, unachtsam die Selbstgedrehte in den Ascher stippt. Einem säumigen Alimentenzahler ist das weiche Gesicht zur Fernsehmaske gefroren. Den dilettantischen Einbrecher, der sich nach einer eimerfüllenden Menge Bier zur kriminellen Tat entschloß — er kam bis in den Kassenraum des Rathauses — scheint das Gehakel auf dem Bildschirm nicht anzurühren. Doch wird, nach dem Film, seine sonore Stimme eine Oktave tiefer gerutscht sein und beinahe grollend klingen.

Gebannt in die Röhre schaut auch der Familienvater aus Pilsen, der im sinnesverwirrenden Konsumrausch vom Grabbeltisch eines Kaufhauses, der auf dem Bürgersteig stand, ein Sweatshirt mitgehen ließ. In holprigem Russisch kann ich mich ein wenig mit ihm verständigen. Ich höre, daß er in der CSFR eine Woche malochen müßte, um die Kronen zu verdienen, die er bräuchte, um dafür — bei dem räuberischen Kurs — die zum Erwerb dieses Sweatshirts nötige Summe in Mark zu bekommen. Ein Inländer arbeitet zwei Stunden dafür.

Knapp über siebzig ist der Rentner, der — man glaubt es nicht! — gegen das Immissionsschutzgesetz verstieß. Um an den kostbaren Kern zu gelangen, den er einem Schrotthändler verhökern wollte, hat er Kupferkabel ins Kartoffelkrautfeuer geworfen. Die Geldstrafe kann er nicht zahlen und muß ersatzweise mit vier Tagen seiner Freiheit einstehen. So hält man es mit dem Umweltschutz im Lande. Das Fernsehen verschmäht er und zitiert Karl Valentin, der sich auch nicht „elektrisch zum Narren halten“ ließ. Er legt sich statt dessen mit einem Heimatroman auf die Matratze.

Den vom Kolping-Werk angebotenen Diavortrag über Schottland hat er sich — wie alle übrigen — erspart. Der gutgemeinte Bilderabend entfällt mangels öffentlichem Interesse. Auch andere, sporadisch stattfindendende zumeist religiös intendierte Veranstaltungen werden gemieden. „Ich laß mich doch nicht verarschen“, kommentiert ein unbelehrbarer Haschischraucher die allgemeine Stimmung. Der oft vollkommen grundlos fröhliche Mann hat, weil er auch gespritzt haben soll, die Vorladung zur Blutentnahme „wegen des Verdachtes einer Aids-Infektion“ vom Gesundheitsamt erhalten. Bei Weigerung droht das Formblatt „Zwangsmaßnahmen“ an.

Zentralverriegelung

In diesem Haus werden Strafen bis zu zwei Jahren vollstreckt. Bei vielen dauert die Zeit nur Tage oder Wochen. Denoch sind die Sicherungsanlagen hochmodern und außerordentlich teuer. Kameras, auf hohen Masten installiert, zeichnen das Gelände samt dreistöckigem Gebäudekomplex aus jeglicher Perspektive auf eine Monitorwand in der „Zentrale“. Keine Bewegung soll dem auf einem Drehstuhl postierten Wärter entgehen, der auch die über die Gegensprechanlage gemeldeten Notfälle registriert. Das sogenannte Kommunikationspaneel in jeder Zelle erlaubt neben dem Notruf die Auswahl zwischen drei bayerischen Sendern. Aber die Qualität — der pro Stück immerhin um dreitausend Mark teuren Gerätschaft — läßt zu wünschen übrig. Angeboten werden vor allem volkstümliche Schnadlahüpfla, die, weil über den Lautsprecher der Rufanlage augestrahlt, gewisse atonale Tendenzen hören lassen.

Besondere Raffinesse ließ man auch bei der Türkonstruktion walten. Jedes Schloß ist elektronisch gesichert und derart adjustiert, daß bereits ein gröberes Stäubchen auf einem der Bärte des Flügelschlüssels denselben verklemmt und den Wärter, der ja sein Schließwerkzeug weder verlassen darf noch kann, an den Ort der Funktionsstörung bindet. Der Effekt läßt sich auch durch einen kräftigen Tritt erzielen. Ausbau und Reparatur eines Schlosses dauern in der Regel zwei bis drei Stunden. Des öfteren schon mußten Gefangene, deren Zelle sich nicht öffnen ließ, über Nacht umquartiert werden.

Eine Zentralverriegelung gibt es auch. Weil sie nichts als Pannen produziert, bleibt sie außer Betrieb. Jede der sechs Stationen verfügt neben dem gläsernen Aufenthaltsraum über ein gläsernes Dienstzimmer, in dem ein Schaltpult zu bewundern ist, das an einen „Airbus“ erinnert. In Reihen gestaffelte Lämpchen blinken. Einige Knöpfe der Tastatur sind beschriftet: Brandmelder; Sabotageschalter. Dann wieder Zahlen- und Buchstabenkombinationen in vielerlei Farben. Die Berührung des Wandkastens, in dem der Feuerlöscher aufbewahrt wird, löst einen nervigen Piepton aus. Manchmal heult ohne erkennbaren Anlaß die Sirene. In den Korridoren — und auch im Duschraum — kleben Schallhörner unter der Decke. Sie knistern und knarren — oder pfeifen ohrenbetäubend schrill, wenn eine Rückkopplung zustande kommt. Verzerrte Stimmen instruieren das Personal. Nicht selten geschieht es in der engen Zelle, daß der Inwohner dem „Kommunikationspaneel“ zu nahe kommt. Tatsächlich kann man nicht kommunizieren.

Empfindlich reagieren die Sensortasten auf jeden Schatten, der ihre Fotozellen streift. Und so dringt plötzlich Heinos Stimme „braun braun braun...“ aus der Wand, das Unglück ist geschehen, die Neonröhre flackert, und auch der Notruf ist ausgelöst. Meldet sich der Gefangene trotz Aufforderung nicht, löscht der störfallgewohnte Wärter das rote Signal. Elektronik, so teuer wie nutzlos, tonnenweise in die Wand gesetzt: ein Großauftrag von Siemens. Ein paar Millionen hier, ein paar Millionen da. Das läppert sich.

Eine Viertelmillion war der Preis für die Unterbringung eines einzigen Gefangenen. Nebenan bekäme man dafür ein stattliches Eigenheim — und einen Opel Manta obendrauf. Dabei fiel die Bibliothek kaum ins Gewicht. Scheinbar wahllos wurden für fünfzigtausend Mark Bücher bestellt. Fest steht, daß der Buchhändler die Gelegenheit nutzte, sein La-

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Fortsetzung

ger von A bis Z zu entlasten: Eine Reihe wuchtiger, bunt bebildeter Wälzer über die Zierfischzucht; Spezialbände für Springreiter und Galopper; der Knigge nebst anderen Benimmbüchern; ein Regal Esoterik; einhundert Pfund Kriegserinnerung; kolorierte Kunstgeschichte und meterweise Ernährungswissenschaft; Diätliteratur. Bekömmliche Belletristik gibt es nebenbei auch. Und Gesetzeswerke. Jedoch ohne Kommentar — damit der Gebrauchswert sich in Grenzen hält.

Beirat

Das Strafvollzugsgesetz besagt: „Bei den Justizvollzugsanstalten sind Beiräte zu bilden“; deren Befugnisse wie folgt definiert werden: „Die Mitglieder des Beirats können Wünsche, Anregungen und Beanstandungen entgegennehmen.“ Man liest des weiteren: „Sie unterstützen den Anstaltsleiter...“ Der Beirat tagt zumeist gegen Abend, so daß ein Beschwerdewilliger die Freistunde opfern muß. Heute erwartet mich der Beirat schon mittags. Der Verzicht auf eine Kelle voll mit Süßstoff und Wasser gestrecktem Apfelmus sowie — auf dem Speisenplan zu „Crèpes“ geadelten — Mehlfladen schmerzt mich nicht. Während einige unerschrockene und heißhungrige Kriminelle mit ihrem Besteck in den dreifach gebuchteten Metalltrögen klappern, schließt mich der Wärter durch die mittäglich stillen Gänge des Verwaltungstraktes zum „Konferenzraum“, öffnet die Tür, ruft meinen Namen und läßt mich eintreten. Die psychologische Vernunft gebietet, Haß und Furcht, Ärger und Frustrationen nach dem Verursacherprinzip an Ort und Stelle zu entsorgen. Die beiden Parlamentarier kommen gerade recht. Eisern paritätisch haben sie in dem dreiköpfigen Gremium die Posten des Vorsitzenden (CSU) und dessen Stellvertreters (SPD) aufgeteilt. Ein Grünen-Politiker ist nicht im Beirat. Das kleine und feiste apoplektische Gesicht des CSU-Abgeordneten Suhrkas, der seine Korpulenz in einen Pfeffer-und-Salz-Anzug mit leicht angeschabten Ellenbogen gezwängt hat, verrät eine ausgepichte Neigung zu den elementaren Dingen im Leben eines bajuwarischen Mannes. „Wir haben nur dreißig Minuten“, sagt Suhrkas, zupft am linken Jackenärmel und entblößt eine Digitaluhr. Neben ihm hat der dritte Beirat, der Landwirtschaftsdirektor Riebiesl, Platz genommen. Wie die Politiker erhält auch Riebiesl für das Ehrenamt eine Aufwandsentschädigung, die er sich auf den vierteljährlichen Zusammenkünften verdient, denen er geduldig beisitzt. Im sonstigen Leben leitet er eine „Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt“, die eine Haushaltsschule für Jungbäuerinnen unterhält, wo aber auch „Experimente am Nutzvieh“ durchgeführt werden. Verhaltensstudien und pharmazeutische Versuchsreihen an Rind und Schwein. Dort arbeitet ein vertrauenswürdiger Gefangener als „Freigänger“. Die Gunst verdient er sich durch häufige Überstunden, die man ihm mit einer Mark vergilt. In die Zelle muß er nur noch zum Schlafen. Mit der Gülle aus der unweit gelegenen Tieranstalt werden die Felder rings um das Gefängnis getränkt. Als Insasse hat man gelernt, die nordöstlichen Winde zu respektieren.

An Leibesfülle steht der Landwirt dem CSU-Vertreter nicht nach. Doch hat er nicht, wie jener, eine genüßlich regsame Physiognomie, sondern zeigt ein starres, grämlich gefurchtes Gesicht. Einiges aber bewegt sich hinter der Stirn. Die flinken Äuglein beweisen es, die auf den Schlag stillstehen: Er bemerkt, daß er selbst gemustert wird.

Den beiden gegenüber, ein Knie übers andere gelegt, etwas abgerückt, sitzt der SPD-Mann Murner. Jahrzehnte als Volksvertreter haben ihn gelehrt, sich zu repräsentieren. Leger gekleidet, weißhaarig, studiobraun. Die Arroganz der Macht scheint nicht seine Sache zu sein. Man hört, daß er für Verlegungen in heimatnahe Anstalten sorgt und an ihn gerichtete Beschwerden insoweit aufgreift, als er dem Anstaltsvorsteher Haferstätter Stellungnahmen abverlangt, die freilich bloß Fallrückzieher sind und wenig mehr enthalten als die formale Litanei: „Unbegründet, unbegründet, unbegründet...“

Der Konferenztisch ist so groß, daß sich der Grundriß meiner Zelle im Maßstab eins zu eins darauf skizzieren ließe und Raum genug für die am Rand plazierten Konferenzler bliebe. Haferstätter hält die Stirnseite besetzt. Hinter ihm fallen Strahlenbündel durch die halb zugezogenen Stores. Sein grauer Backenbart leuchtet. Unlängst entsagte der behutsame Aufsteiger der Möglichkeit, in das Personalressort des Ministeriums zu wechseln. Er wartet. Als ihn seine Behörde — die ja auf Gegenreformen drängt und „die Aspekte von Buße und Sühne“ in den Vordergrund rücken möchte — mit einem Weggefährten, der damals noch Anstaltsleiter von Straubing war, zur Anhörung vor den Bundestagsausschuß entsandte, entblödeten die beiden sich nicht, ihre Verschärfungsbegehren mit der Mutmaßung zu begründen, der Strafvollzug könnte ansonsten „erstrebenswert“ werden. Haferstätters Streben in den Vollzug wurde — nach seinem eigenen Bekunden — von der Tante gefördert, die dem Vernehmen nach als allseits geachtete Person einem Irrenhaus vorgestanden haben soll. Haferstätter leitet zwei Anstalten. Meist ist er im Haupthaus. Das kleine Gefängnis verwaltet er sozusagen nebenbei.

Zu seiner Linken befinden sich Regierungsoberinspektor Plötz sowie Amtsinspektor Saur, dessen momentan und im weiteren unergiebige Gegenwart die Runde komplettiert. Plötz ist nicht im Rahmen des üblichen, sondern eines besonderen Anlasses wegen anwesend. Für einen Sprachkurs hatte ich in der vorgeschriebenen Form ein Kassettenabspielgerät beantragt. Nach einer Bearbeitungszeit von drei Wochen befand Plötz, daß „das Erlernen einer Fremdsprache keine ausreichende Begründung“ wäre. Ich wandte mich an den Abgeordneten Murner, dem Plötz am Telefon die irreführende Auskunft gab, ich hätte ein Aufzeichnungsgerät, einen generell nicht zugelassenen Recorder gewollt. Unversehens wurde aus einem technischen ein sittliches Problem. Mit einem Brief vertröstete mich der SPD- Mann auf die heutige Sitzung.

Plötz ist bei den Jesuiten aufgewachsen. Unmöglich, nicht daran zu denken, als ich seine auf dem Tisch gefalteten Hände und das demütig darüber gebeugte Gesicht betrachte. Es kostet Kraft, jetzt nicht zu lachen, zumal der Christsoziale Suhrkas das öde Strohblumengesteck in der Mitte des Tisches barsch auffordert: „Also fangen Sie an!“ Vor mir ein paar Notizen, Punkte, die zu erwähnen wären. Ein Leserbrief, unterzeichnet von mehreren Gefangenen, wurde beschlagnahmt. Riebiesl kratzt sich am Ohr und gähnt. „Ein Leserbrief wurde nicht beschlagnahmt“, sagt Haferstätter. Er betont das Wort „beschlagnahmt“. Es behagt ihm nicht. Der Vorsitzende, gebeten, die Fakten zu prüfen, nickt griesgrämig. Haferstätter: „Der Gefangene, in dessen Zelle die Unterschriftenliste aufgefunden wurde, ist über die Gründe der Sicherstellung informiert.“ Suhrkas bewegt den Kopf in meine Richtung. Ich zitierte den Brieftext, drei Sätze, sage, daß dieses Schreiben von mehreren Gefangenen unterzeichnet wurde und als Adressanten ausdrücklich „Gefangene der JVA“ nennt. „Der Gefangene wurde informiert“, wiederholt Haferstätter. Für den Beirat ist die Sache damit abgetan. „Sie haben ein wirklich gutes Gedächtnis“, staunt Suhrkas und blickt haarscharf an meinem linken Ohr vorbei. In seinem Beruf ist ein gutes Gedächtnis ein Handikap.

Der nächste Punkt betrifft das Essen. Beim Stichwort „Essen“ verzieht sich Riebiesls Gesicht zu allwissendem Schmunzeln. Für eine Sekunde hat er sich nicht in der Gewalt.

Das Essen würde auch ihm fehlen. Gott sei Dank fehlt es ihm nicht. Auf dem Speisenplan sind zum Frikassee pro Portion 250 Gramm Hühnerfleisch angegeben. Tatsächlich wurden für 103 Essen nur elf Hühner verwendet. Die aber bringen keine 26 Kilo auf die Waage. Murner zückt seinen Federhalter. Was meint Haferstätter? „Die Sache ist geprüft.“ Das Gremium ist zufrieden.

Das Kassettengerät? Haferstätter hastig: „Ist genehmigt!“ Und warum hat Plötz abgeblockt und dem Abgeordneten überdies die Unwahrheit gesagt? Murner schweigt. Ich möchte feststellen lassen, daß dem Abgeordneten Murner die Unwahrheit gesagt worden ist. Das ist keine Lappalie, kein Versehen, sondern übliche Praxis. Haferstätter, mit schiefem Lächeln: „Die Akte ist unterwegs.“ „Glauben Sie nur nicht, daß wir nichts tun“, sagt Murner. Als ich die Runde verlasse, befindet sie sich ebenso, wie ich sie bei meiner Ankunft vorfand; unbeweglich, unbewegt. Der beschlagnahmte Leserbrief war an die Provinzpostille gerichtet und als Replik gedacht auf einen herzigen Artikel über den Sozialdienst der Anstalt.

Der Text wurde als perfide empfunden, weil er wenige Seiten vor einer schwarzgerahmten Meldung zu finden war. Die wenigen Zeilen besagten, daß ein kürzlich aus dem kleinen Gefängnis entlassener Rückfalltäter, dem Ausgang und Urlaub gesperrt worden waren, sich umgebracht hat.