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Flucht vor Algeriens „großer, stummer Kraft“

Einen Monat vor den Parlamentswahlen in Algerien ist unklar, ob sie überhaupt stattfinden/ Die Islamische Heilsfront (FIS) diskutiert einen Wahlboykott — und immer mehr Algerier flüchten sich angesichts der Wirtschaftsmisere in die Emigration  ■ Von Oliver Fahrni

Aix-en-Provence (taz) — Souhila, Kinderärztin aus Oran, gab dieser Tage eine Fete — gleich nach ihrer Ankunft in Marseille. Sie ist mit einem dreimonatigen Touristenvisum da. Bei Cheb Mami, Briks und Thé à la menthe bat sie Nasser, den Informatiker, Latifa und Bougera, das Advokatenpaar, Souad, die Journalistin, um Hilfe. Sie will in Frankreich bleiben, fürchtet aber die neuen Restriktionen für Ausländer und den ambienten Rassismus. Latifa: „Bei deiner Qualifikation kein Problem. Ich nehme das in die Hand.“

So wie Souhila halten es viele algerische Kader. Allein in und um Paris praktizieren schon 2.000 algerische ÄrztInnen und RechtsanwältInnen.

In einem Monat stehen in Algerien die ersten halbwegs demokratischen Parlamentswahlen an. Und das Fieber steigt. Es mißt sich an der Länge der Schlangen vor dem französischen Konsulat am Boulevard der Märtyrer oder den Konsulaten der Schweiz, Kanadas, Italiens, Australiens.

Souhila hatte mich im Juni angerufen. Ganz Vertreterin der oberen Mittelschicht, bejubelte sie den Ausnahmezustand und die harte Hand der Militärs auf Islamistenjagd. „Jetzt kann ich wieder atmen“, hatte sie gesagt und einen Job im bretonischen Brest ausgeschlagen.

Und nun kommt sie doch. Ich gebe mich ahnungslos: „Souhila, die Bärte sind ab. Die FIS-Chefs Madani und Ben Hadsch sitzen in Militärgefängnissen und mit ihnen 8.000 Islamisten. In einem Monat sind die langersehnten Wahlen. Warum bist du nicht dageblieben?“ — „Mein Einkommen“, sagt Souhila, „ist allein in diesem Jahr um 60 Prozent real gesunken. Mittlerweile stehe ich um Brot eine Stunde an. Ist das ein Leben? Ich habe Angst. Stimmt, die Bärte sind ab. Wir Frauen bewegen uns freier, auch abends. Aber ich denke, daß wir diese äußeren Zeichen überschätzen. Ich fürchte, daß dies nicht die tiefere Realität dieser Gesellschaft ist. Alles ist noch blockierter als vor dem Juni. Irgendwo ist da eine große, stumme Kraft. Es ist, als stünden wir auf Treibsand.“

Souhila beschleicht öfters das Gefühl, daß ein irreparabler Riß quer durch die algerische Gesellschaft gehe. Manchmal, sagt sie, und es kostet sie Überwindung, „wenn bei uns wieder ein Kind mit Vitamin- und Eiweißmangel reinkommt, überrasche ich mich neuerdings beim Gedanken, daß diese Hunde von der Islamischen Heilsfront die legitimeren Vertreter des algerischen Volkes sind. Wer sonst bietet eine Perspektive? Aber das alles bitte ohne mich.“

Souhila packte ihre Koffer am Abend des 1. Novembers. Zu diesem Jahrestag des Beginns des algerischen Befreiungskampfes brachte die FIS über eine Viertelmillion Menschen auf die Straße, für den „Islamischen Staat“ und die „Scharia“. Die Machtdemonstration, nur einen Monat nach Aufhebung des Ausnahmezustandes, machte klar, daß die Islamisten durch die Repression geschwächt, aber aus der algerischen Gesellschaft nicht verdrängt sind.

Ein Viertel der FIS-Bürgermeister und fast alle Verbindungskader der Massenbewegung sitzen im Kerker. Die meisten prominenten Prediger sind aus den Städten verbannt. Jeder Versuch, neue FIS-Strukturen zu schaffen, wird vom Regime sofort zerschlagen.

Dennoch scheiterte der Versuch von Staatspräsident Chadli, den Islamisten eine gemäßigte Führung aufzuzwingen. Die FIS-internen Debatten sind rüde, führten bisher aber nicht zur Spaltung. Regimenahe Kader wie der mächtige Präsident der Sozialkommission, Ahmed Merani, wurden ausgeschlossen. Gleichzeitig widerstanden die Islamisten der Versuchung, den gewaltsamen Sturz des Regimes zu suchen, auf dessen Geheiß im Juni über 300 Moslembrüder umgebracht wurden. Madani behielt, aus dem Schatten seiner Zelle heraus, die Bewegung fest in der Hand. Er schickte seinen Freund Said Makhloufi, Gründungsmitglied der FIS und Verfasser eines Subversionshandbuches, in die Wüste, nachdem der in einem Interview aus dem Untergrund den bewaffneten Kampf gelobt hatte.

Die hohe Parteidisziplin ist die Leistung des neuen, provisorischen FIS-Chefs Abdelkadr Hachani. Der 35jährige Ingenieur knüpfte über die Moscheen ein neues klandestines Informationsnetz. In aufsehenerregenden Aktionen verteilten die Islamisten in Algiers Armenvierteln Schulmaterial und nahmen ihre Sozialarbeit wieder auf.

Streit gärt in der FIS zur Zeit über die Teilnahme an den für den 27.Dezember angesetzten Parlamentswahlen. Als die Islamisten kurz vor Ablauf der gesetzlichen Frist ihre Kandidatenlisten einreichten, standen an prominenter Stelle alle acht gefangenen FIS-Chefs. Ein Gericht lehnte vorvergangene Woche diese Kandidaturen ab. Jetzt will die FIS-Mehrheit nur teilnehmen, wenn Madani und die anderen vor den Wahlen freikommen.

Abderrahim hält eine Teilnahme für wenig wahrscheinlich. Abderrahim bereist Europa, als Autoarbeiter getarnt, um Geld für den FIS-Wahlkampf zu sammeln: „Geben wir klein bei in dieser Frage, ohne Madani und Ben Hadsch und all die anderen ausgelöst zu haben, wird sich ein starker und junger Teil der Bewegung nach radikaleren Kampfformen außerhalb der FIS umschauen. Unmöglich.“

Andererseits würde ein Wahlboykott der Islamisten den Wahlen den letzten Rest Glaubwürdigkeit nehmen. Premierminister Sid Ahmed Ghozali versuchte in den letzten Tagen gute Stimmung zu machen und kündigte, pünktlich zum Beginn der Wahlkampagne, eine 40prozentige Lohnerhöhung an, sorgte derweil aber auch fürs Gröbste vor: Neuer Innenminister in seiner Regierung wurde ein hoher Militär, Generalmajor Larbi Belkheir. Neue Vollmachten erleichtern dem Präsidenten den Zugriff aufs Militär.

In Algier gehen jetzt die Wetten nicht darum, wieviel Prozent die Islamisten bekommen, sondern um die Frage, ob die Wahlen überhaupt abgehalten werden. In einer großen Tageszeitung stehen die Wetten zur Zeit 4,2 : 1 — gegen die Wahlen.

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