Krisengespräch über Berg-Karabach

Aserbaidschans Sowjet hebt Autonomie-Status von Berg-Karabach auf/ Staatsrat sucht Lösung  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Aserbaidschan und Armenien müssen mit allen Mitteln versöhnt werden. Wer ist dazu in der Lage?“ Fast wie eine Stellenanzeige las sich die besorgte Überschrift der Dienstagabendausgabe der 'Iswestija‘. Noch vor einem Jahr sei die Prognose eines Bürgerkrieges den meisten Sowjetbürgern als irreal erschienen, obleich sie schon damals zwischen Armenien und Aserbaidschan zur Wirklichkeit geworden war, schreibt das Blatt: „Heute aber ist der Kaukasus in mehr als metaphorischem Sinne ein Pulverfaß, dessen Explosion für uns zu einer Tragödie von jugoslawischem Ausmaß führen kann.“

Am Mittwoch vormittag trafen die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens, Ajas Mutalibow und Lewon Ter Petrossjan auf Einladung Präsident Gorbatschows in Moskau ein. Sie wollten gemeinsam mit dem Staatsrat, in dem mit Ausnahme der baltischen Staaten alle ehemaligen Sowjetrepubliken vertreten sind, nach einem Ausweg aus der Krise suchen. Eine solche Lösung ist allerdings schwer vorstellbar, ohne eine Neudefinition des Status der Enklave Berg-Karabach, einem mehrheitlich von Armeniern bewachten Bergland auf aserbaidschanischem Territorium, das bisher offiziell als „autonomes Gebiet“ galt. Diese Autonomie hat der aserbaidschanische Oberste Sowjet am Dienstag aufgehoben.

Eine Einmischung in die Karabach-Frage bringt den Staatsrat in eine Zwickmühle, da er gerade in Nowo-Ogarjowo mit Mühe im Interesse der großen föderativen Republiken, vor allem Rußlands, übereingekommen ist, daß Probleme mit den kleinen autonomen Gebiete künftig allein Sache der Staaten sein sollen, auf deren geographischem Terrain sich diese befinden.

Auch Gorbatschows Vorschlag vom Montag, eine zehn Kilometer breite Pufferzone an der aserbaidschanisch-armenischen Grenze zu ziehen, in der Unions-Patrouillen die Streithähne auf Sicherheitsabstand halten sollen, wird bei beiden Seiten kaum auf Gegenliebe stoßen. Die Armenier erblicken in dieser Perspektive eine zusätzliche Bedrohung, bedeutete dies doch die völlige Isolation ihrer Landsleute in Berg-Karabach vom Mutterland.

Eine breite oppositionelle Koalition hatte letzte Woche in Baku den Rücktritt des Präsidenten und des Obersten Sowjet gefordert. Vor diesem Hintergrund nutzten aserbaidschanische Regierungskreise den Absturz eines Helikopters am vergangenen Mittwoch in Berg-Karabach, bei dem hohen aserbaidschanische, russische und kasachische Regierungsbeamte ums Leben kamen, um die Wut potentiell aufrührerischer Bevölkerungsschichten gegen den Nachbarn zu wenden.

Die Flugzeuginsassen arbeiteten im Auftrag einer Karabach-Friedensinitiative der Präsidenten Jelzin und Nasarbajew. Hinweise, daß die Maschine abgeschossen wurde, mehren sich.

Außer armenischen Freischärlern könnte ein solches Versehen aber durchaus auch aserbaidschanischen Truppen und den Streitkräften des Innenministeriums unterlaufen sein. Die aserbaidschanische Staatsanwaltschaft bestand bisher darauf, die Ermittlung allein zu führen.

In aserbaidschanischen und in armenischen Grenzgebieten, ebenso wie in Karabach selbst, wurde geschossen. Es gab Tote auf beiden Seiten und Terrorakte. Aus der Berg- Enklave drangen kaum mehr Nachrichten in die Außenwelt, da Telefon- und Telegrafenverbindungen gekappt sind. Jerewan wird schon seit Wochen nicht mehr mit Erdgas versorgt, die Eisenbahnverbindungen sind blockiert.

In Baku beschloß der Oberste Sowjet nicht nur die Aufhebung der Karabacher Autonomie, er wählte auch einen Nationalrat als provisorische Krisenregierung. Präsident Mutalibow forderte in einer vom Fernsehen übertragenen Rede zur Lage der Nation, alle denkbaren Maßnahmen zur Wahrung der territorialen Integrität Aserbaidschans zu ergreifen, gleichzeitig warnte er aber: „Der Konflikt mit Armenien sollte nicht von einer Position der Stärke aus gelöst werden, sondern durch friedliche Verhandlungen.“ Mutalibow bezeichnete den Anschluß Aserbaidschans an den Unionsvertrag als notwendig. Während der Sitzung forderten Tausende von Demonstranten vor dem Parlament ein hartes Durchgreifen gegen die Nachbarrepublik.

In Jerewan traf gleichzeitig der stellvertretende sowjetische Verteidigungsminister, General Gratschow, ein. Das Parlament richtete einen Friedensappell an den Nachbarstaat. Auf einem abendlichen Massenmeeting wandten sich Tausende von Anhängern der regierenden „Armenischen Gesamtnationalen Bewegung“ an die Opposition im Nachbarstaat, vor allem an die Volksfront Aserbaidschans, ihren Einfluß zur Entschärfung der Lage geltend zu machen. In beiden Republiken wurde die Einberufung aller Wehrpflichtigen beschlossen. Entgegen seiner Tagesordnung, beschloß der aserbaidschanische Oberste Sowjet allerdings nicht die Verhängung des allgemeinen Kriegszustandes. Vor dem Schritt, der eine offizielle Kriegserklärung an den Nachbarn bedeutet hätte, schreckten die Abgeordneten zurück.